Sonntagsblatt 6/2016 | Page 27

Großvater hatte weder Geld, noch Lebensmittelkarten; konnte mir also nichts Süßes kaufen, was mich doch ganz schön ent- täuschte. Zu Hause in Schorokschar hatte mir Opa oder Oma immer etwas gekauft, wenn wir in unserer Geschäftsstraße waren. Regelmäßig hatte mir meine Großmutter Schokolade oder Lecke - reien auch aus Budapest mitgebracht. Durch ihr Kühleisgeschäft kam sie fast jeden Tag in die ungarische Hauptstadt, denn hier hatte sie in der „Franzstadt” (Ferencváros) ihre „Kundschaft”, die regelmäßig mit Kühleis beliefert werden musste. Zum ersten Mal wurde ich hier in Wasseralfingen mit dieser Situation in Deutsch - land bekannt, die man als Mangelverwaltung kennt. Inzwischen läuteten die Glocken der Stefanskirche zu Mittag und Großvater entschied, dass wir uns wieder auf den Weg ins La - ger begeben sollten. Mutter und Großmutter hatten inzwischen mit den anderen Frauen unserer Großsippe Wäsche gewaschen, und diese hing jetzt vor dem Eingang unserer Baracke. Auch in unseren „Räu - men” hing überall Wäsche. Dies empfand ich als sehr unange- nehm und war froh, als Großvater sagte, dass wir beide in Richtung Gemeinschaftsküche gehen wollten, um unser Essen zu fassen. Die Frauen wollten erst abwarten bis die Männer aus Aalen zurück waren. Erst dann sollte gegessen werden. Großvater trug unsere beiden vollen Teller in unsere Behausung und wir beide suchten uns ein Plätzchen, wo wir in Ruhe essen konn ten. Es war nur ein einfaches Eintopfgericht, doch es schmeck te uns beiden, hatte uns doch der Erkundungsgang hung- rig gemacht. Zu trinken gab es Tee, den Oma mittlerweile mit un - serem großen Wasserkrug aus der Küche geholt hatte. Gespannt erwarteten alle die Rückkehr der Männer, die eigent- lich schon da sein sollten. Es wird doch nichts Unvorhergesehe - nes geschehen sein?! Es war nichts Besonderes geschehen, denn bald schon kamen die Männer aus der Stadt zurück. Sie waren guter Laune, hatten sie doch in Aalen eine Gaststätte ausfindig gemacht, wo „Dünn - bier” ohne Marken für Reichsmark ausgeschenkt wurde. Sie hat- ten in Ungarn immer von der Qualität des deutschen Bieres ge - hört und waren jetzt enttäuscht, dass es doch nicht so besonders geschmeckt hatte. Originalton Michl-Veitta: „Deis „Dreher-Bier” va Sta’bruch hot mia viel beissa gschmeickt! (Das Bier aus der Dre her-Brauerei in Steinbruch (Kôbánya) hat mir viel besser ge - schmeckt). Sie hatten daneben auch eine ganze Reihe von Vertriebenen getroffen und sich mit ihnen unterhalten, was durch die vielen ver- schiedenen Herkunftsorte nicht immer ganz einfach war. Beson - ders bei den Schicksalsgenossen aus Ungarn (Budaörs), die schon länger hier waren, hatten sie genau hingehört. Diese brachten die Lage auf einen einfachen Nenner: 1. Wir sollten uns darauf einstellen, dass wir längere Zeit hier bleiben müssen. 2. Bei der Verteilung auf die neuen Wohnorte sei es von Vorteil, von einer Bauernfamilie aufgenommen zu werden.Dort gäbe es immer etwas zu essen! 3. Meldet ihr euch zur Verteilung in die Industriezonen Württembergs, könnt ihr zwar mehr Geld verdienen. Dieses ist aber nur in Verbindung mit „Marken” und „Bezugs schei - nen” etwas wert. Ohne diese ist es fast wertlos. Außerdem würde sich bei einer solchen Entscheidung „Hunger” breit- machen. Diese Nachrichten lösten natürlich intensive Diskussionen aus. Für unsere Sippe, die doch hauptsächlich aus dem bäuerlichen Bereich stammte, war es beinahe vorprogrammiert, dass wir uns für die Verteilung auf den ländlichen Raum entscheiden würden, obwohl wir doch aus der Stadt (Budapest) kamen. Diese Entschei - dung sollte sich für die Zukunft als eher negativ herausstellen, aber wer wollte schon damals die weitere Entwicklung in Deutsch - land voraussehen? Sicherlich mitentscheidend für diese Weichenstellung hier in Deutschland war auch der momentane Zustand meines Vaters Thomas. Er befand sich in einer schlimmen Depressionsphase, hatte er doch in den letzten Kriegstagen im Kessel von Budapest sein rechtes Auge durch einen Granatsplitter verloren und musste eine Augenklappe tragen. Seine rechte Augenhöhle war leer und zusammengefallen, so dass er oft vor dem Spiegel stand und diese schlimme Entstellung seines zuvor ebenmäßigen Gesichtes be - trach tete. Alle bedauerten ihn ob dieses schrecklichen Verlustes. Er hatte die Eindrücke dieses Ereignisses offensichtlich noch nicht verarbeitet und war ständig mit diesem Trauma konfrontiert! Ich glaube, dass er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zutrau- te, eine Arbeitsstelle in einer Fabrik anzutreten, da er noch enor- me Probleme mit der Einschränkung seines Sichtfeldes hatte. Wie war es überhaupt dazu gekommen? Dies ist eine längere Geschichte und ich möchte hier etwas weiter ausholen, weil für mich aus dieser Phase meines Lebens einige einschneidende Er - leb nisse in meinem Gedächtnis haften geblieben sind… O Von Memel auf die Kurische Nehrung Auf den Spuren von Thomas Mann in Litauen Von: Hans Dama – Freitag, 23. September 2016 Kurische Nehrung Fischerhütten auf der Kurischen Nehrung Klaipéda, auf Deutsch Memel, war bis 1920 die nördlichste Stadt Deutschlands, die 1807/8 von Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise auf der Flucht vor Napoleon für kur