Großvater hatte weder Geld, noch Lebensmittelkarten; konnte
mir also nichts Süßes kaufen, was mich doch ganz schön ent-
täuschte. Zu Hause in Schorokschar hatte mir Opa oder Oma
immer etwas gekauft, wenn wir in unserer Geschäftsstraße waren.
Regelmäßig hatte mir meine Großmutter Schokolade oder Lecke -
reien auch aus Budapest mitgebracht. Durch ihr Kühleisgeschäft
kam sie fast jeden Tag in die ungarische Hauptstadt, denn hier
hatte sie in der „Franzstadt” (Ferencváros) ihre „Kundschaft”, die
regelmäßig mit Kühleis beliefert werden musste. Zum ersten Mal
wurde ich hier in Wasseralfingen mit dieser Situation in Deutsch -
land bekannt, die man als Mangelverwaltung kennt.
Inzwischen läuteten die Glocken der Stefanskirche zu Mittag
und Großvater entschied, dass wir uns wieder auf den Weg ins La -
ger begeben sollten.
Mutter und Großmutter hatten inzwischen mit den anderen
Frauen unserer Großsippe Wäsche gewaschen, und diese hing
jetzt vor dem Eingang unserer Baracke. Auch in unseren „Räu -
men” hing überall Wäsche. Dies empfand ich als sehr unange-
nehm und war froh, als Großvater sagte, dass wir beide in
Richtung Gemeinschaftsküche gehen wollten, um unser Essen zu
fassen. Die Frauen wollten erst abwarten bis die Männer aus
Aalen zurück waren. Erst dann sollte gegessen werden.
Großvater trug unsere beiden vollen Teller in unsere Behausung
und wir beide suchten uns ein Plätzchen, wo wir in Ruhe essen
konn ten. Es war nur ein einfaches Eintopfgericht, doch es
schmeck te uns beiden, hatte uns doch der Erkundungsgang hung-
rig gemacht. Zu trinken gab es Tee, den Oma mittlerweile mit un -
serem großen Wasserkrug aus der Küche geholt hatte.
Gespannt erwarteten alle die Rückkehr der Männer, die eigent-
lich schon da sein sollten. Es wird doch nichts Unvorhergesehe -
nes geschehen sein?!
Es war nichts Besonderes geschehen, denn bald schon kamen
die Männer aus der Stadt zurück. Sie waren guter Laune, hatten
sie doch in Aalen eine Gaststätte ausfindig gemacht, wo „Dünn -
bier” ohne Marken für Reichsmark ausgeschenkt wurde. Sie hat-
ten in Ungarn immer von der Qualität des deutschen Bieres ge -
hört und waren jetzt enttäuscht, dass es doch nicht so besonders
geschmeckt hatte. Originalton Michl-Veitta: „Deis „Dreher-Bier”
va Sta’bruch hot mia viel beissa gschmeickt! (Das Bier aus der
Dre her-Brauerei in Steinbruch (Kôbánya) hat mir viel besser ge -
schmeckt).
Sie hatten daneben auch eine ganze Reihe von Vertriebenen
getroffen und sich mit ihnen unterhalten, was durch die vielen ver-
schiedenen Herkunftsorte nicht immer ganz einfach war. Beson -
ders bei den Schicksalsgenossen aus Ungarn (Budaörs), die schon
länger hier waren, hatten sie genau hingehört.
Diese brachten die Lage auf einen einfachen Nenner:
1. Wir sollten uns darauf einstellen, dass wir längere Zeit hier
bleiben müssen.
2. Bei der Verteilung auf die neuen Wohnorte sei es von Vorteil,
von einer Bauernfamilie aufgenommen zu werden.Dort gäbe
es immer etwas zu essen!
3. Meldet ihr euch zur Verteilung in die Industriezonen
Württembergs, könnt ihr zwar mehr Geld verdienen. Dieses
ist aber nur in Verbindung mit „Marken” und „Bezugs schei -
nen” etwas wert. Ohne diese ist es fast wertlos. Außerdem
würde sich bei einer solchen Entscheidung „Hunger” breit-
machen.
Diese Nachrichten lösten natürlich intensive Diskussionen aus.
Für unsere Sippe, die doch hauptsächlich aus dem bäuerlichen
Bereich stammte, war es beinahe vorprogrammiert, dass wir uns
für die Verteilung auf den ländlichen Raum entscheiden würden,
obwohl wir doch aus der Stadt (Budapest) kamen. Diese Entschei -
dung sollte sich für die Zukunft als eher negativ herausstellen,
aber wer wollte schon damals die weitere Entwicklung in Deutsch -
land voraussehen?
Sicherlich mitentscheidend für diese Weichenstellung hier in
Deutschland war auch der momentane Zustand meines Vaters
Thomas. Er befand sich in einer schlimmen Depressionsphase,
hatte er doch in den letzten Kriegstagen im Kessel von Budapest
sein rechtes Auge durch einen Granatsplitter verloren und musste
eine Augenklappe tragen. Seine rechte Augenhöhle war leer und
zusammengefallen, so dass er oft vor dem Spiegel stand und diese
schlimme Entstellung seines zuvor ebenmäßigen Gesichtes be -
trach tete. Alle bedauerten ihn ob dieses schrecklichen Verlustes.
Er hatte die Eindrücke dieses Ereignisses offensichtlich noch nicht
verarbeitet und war ständig mit diesem Trauma konfrontiert!
Ich glaube, dass er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zutrau-
te, eine Arbeitsstelle in einer Fabrik anzutreten, da er noch enor-
me Probleme mit der Einschränkung seines Sichtfeldes hatte.
Wie war es überhaupt dazu gekommen? Dies ist eine längere
Geschichte und ich möchte hier etwas weiter ausholen, weil für
mich aus dieser Phase meines Lebens einige einschneidende Er -
leb nisse in meinem Gedächtnis haften geblieben sind…
O
Von Memel
auf die Kurische Nehrung
Auf den Spuren von Thomas Mann in Litauen
Von: Hans Dama – Freitag, 23. September 2016
Kurische Nehrung
Fischerhütten auf der
Kurischen Nehrung
Klaipéda, auf Deutsch Memel, war bis 1920 die nördlichste Stadt
Deutschlands, die 1807/8 von Friedrich Wilhelm III. und Königin
Luise auf der Flucht vor Napoleon für kur