Sonntagsblatt 6/2006 | Page 6

fung ? Mit welchen Möglichkeiten und Zwängen mussten wir uns in der Zeit von 1945 bis zur politischen Wende 1990 auseinandersetzen ? Um diese Fragen zu beantworten , muss man keine Archive und keine Geschichtsbücher studieren . Eindrücklicher und lebendiger sind Berichte von Zeitzeugen aus der Erlebnisgeneration . Die Zahl solcher Berichte ist verständlicherweise nicht groß . Wer wagte damals schon sich demonstrativ zu bekennen , geschweige denn öffentlich seine “ Erlebnisse ” als Angehöriger einer geächteten Minderheit kundzutun ? Eine solche Selbstreflexion , deren Authentizität ich aus eigenen Erfahrungen unterstreichen kann , wurde 2002 , zwölf Jahre nach der Wende , in der in Pécs / Fünfkirchen erscheinenden Tageszeitung Új Dunántúli Napló von László Bükkösdi veröffentlicht . Die Geschichte ist aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählt , aber vielleicht gerade deshalb unbefangen und aufschlussreich . Ich möchte diesen “ Rückblick eines Schwaben ” auf die Nachkriegsjahrzehnte leicht gekürzt als Epilog und gleichsam als Reflexion auf die Artikelserie im Pester Lloyd den Lesern des Sonntagsblattes empfehlen .
RUHE SANFT
Wir saßen zu viert in der gewohnten Ecke der Bierschänke . Sogenannte Intellektuelle . Freunde . Alle aus einfachen Verhältnissen vom Lande . Gewöhnlich führte Anti am lautesten das Wort . Heute war Anti auffallend still und trank bedrückt sein Bier . - Was ist los ? - fragte András . - Hab meine Mutter beerdigt - lautete
Antis kurze Antwort . Auch wir wurden still , waren bedrückt .
Anti ergriff erneut das Wort .
-Ich sage es euch , obwohl ihr es nicht verstehen werdet , weil ihr Ungarn seid . Aber ihr seid auch meine Freunde . Und irgend jemandem muss ich es endlich sagen .
Sonst haben wir Antis Wortmeldungen meist heftig widersprochen . Diesmal verharrten wir leicht verlegen und in gespannter Ei-wartung .
- Keiner von euch weiß , was es heißt , in den vergangenen sechzig Jahren in diesem Land als Schwabe gelebt zu haben . Meine Vorfahren haben in den Wäldern des Mecsek-Gebirges die Bäume gerodet , damit sie zu Ackerland kommen und ihr Dorf aufbauen konnten . Mein Großvater war ungarischer Soldat . Meinen Vater haben die Nazis als Volksdeutschen zur SS eingezogen , als Kugelfang . Aus unserem Dorf hat man nach der „ Befreiung “ 32 Frauen ohne jegliches Gepäck , in Holzklumpen zur Zwangsarbeit getrieben . Zunächst zu Fuß nach Fünfkirchen . In das selbe Haus , in dem vorher die Juden vor ihrem Abtransport zusammengetrieben worden waren . Der Zug der Schwaben fuhr ebenfalls vom selben Gleis ab , wie der Zug der Juden nach Auschwitz . Die Schwaben hatten mehr “ Glück ” als die Juden , falls sie überlebten . Sie kamen in sowjetische Kohlebergwerke . Auf der Fahrt dorthin erhielten sie erst nach Tagen , in Máramarossziget ( Rumänien ) zum ersten Mal Wasser zum Trinken . Fast alles Frauen , zwischen siebzehn und zweiundreißig Jahren . Nur vierzehn von zweiundreißig kehrten lebend zurück . Unter ihnen meine Mutter . Mein Vater floh nach Kriegsende in Köln aus der Gefangenschaft und schlug sich nach Ungarn durch . Er musste sich dann zuhause in den Wäldern und Weinbergen verstecken . Seine Blutgruppe war eintätowiert . Falls sie ihn schnappten , wäre es aus gewesen für ihn . Ihr Haus und ihren Hof hatten bereits Neusiedler ( telepes ) aus dem Osten des Landes beschlagnahmt (...) “ Die telepes hon ge-igényelt ” ( Die Neusiedler haben es beansprucht ) - höre ich noch heute . Vater und Großvater arbeiteten im Wald . Als meine Eltern heirateten , gelang es ihnen , eine kleine Wohnung zu bekommen . Weit außerhalb des Dorfes . Weinend gingen sie immer an ihrem schnell verwahrlosten Haus vorbei . Sobald sie durften , bauten sie sich ein neues Haus .
Ihr kennt nur die Geschichten von Schlägereien bei Ballveranstaltungen zwischen ungarischen Neusiedlern und deutschen Alteingesessenen . Den Grund kennt ihr nicht (...) Unter den Neusiedlern gab es einige , die , sobald sie alle Vorräte der Schwaben verbraucht hatten , neue schwäbische Anwesen beanspruchten . Höfe mit großen Misthaufen . Solche von wohlhabenden Bauern . Dann mußten unter Mithilfe ungarischer Polizisten auch jene Deutschen ihren Hof verlassen , die noch nicht vertrieben worden waren . Wir galten als sündige Nation .
Mein Nationalitätenbewußtsein erwachte 1956 . Die Älteren hörten bereits akkubetriebene Volksradios ( Strom gab es noch nicht ). Vater und Mutter meinten , jetzt sollten wir in die BRD fliehen . Worauf mein Großvater : Einmal habe ich all meinen Besitz den Ungarn geben müssen , noch einmal lasse ich mein Eigentum nicht zurück . Und so blieben wir .
Als ich mir das Bein brach , brachte mich meine Mutter mit dem Bus in die Stadt . Zum Bus waren es acht Kilometer auf einem Pferdewagen . In der Stadt angekommen , ging es auf dem Rücken meiner Mutter weiter ins Krankenhaus . Nachdem mein Bein eingegipst war , ging es mit den gleichen Transportmitteln wieder zurück . Als wir in der Stadt auf den Bus warteten , herrschte mich eine Frau mit rot geschminktem Mund an : Kleiner , sprich ungarisch , frisst auch ungarisches Brot !
In der Schule mußte ich zwei bis fünfhundert Mal als Strafarbeit den Satz “ Az iskolaudvaron magyarul beszélünk ! Auf dem Schulhof sprechen wir ungarisch !” niederschreiben , weil ich mit Meinesgleichen in unserer Muttersprache redete . Einmal habe ich mein Fett im bekannten
Heilbad Harkány abbekommen . Meine Großmutter fuhr mit ihrer Freundin zur Heilbehandlung in das beliebte Thermalbad und nahm auch mich und meinen Schulfreund mit . Als ich mich mit meinem Freund am Eingangstor gerade darüber beraten habe , ob wir uns für das Eintrittsgeld nicht lieber Eis kaufen sollten und uns heimlich ins Bad schleichen , rüffelte uns eine Frau in schokatzer ( süd-slawischer ) Tracht an , „ sprecht ungarisch , ihr esst ja auch ungarisches Brot !” Versteht ihr das ? Eine Schokatzin ! In unserem Dorf haben wir nicht ungarisch gesprochen . Den Pferden und Kühen gaben wir aber ungarische Namen : Pöske , Semle , Lacci .
Ich fasse es kurz . Ich hätte es sehr gerne gehabt , dass meine Mutter eine deutsche Beerdigung bekommt . Ich bin , wenn ich zuhause war , ihr zu liebe immer in die Kirche gegangen . Meine Mutter sang seit ihrer Jugend im Kirchenchor . Der neue Pfarrer hat in der Kirche alles , Gesang , Vaterunser auf ungarisch umgestellt . Dabei kommt eine furchtbare Aussprache heraus . Meine Tante konnte höchsten grüßen auf ungarisch ., trotzdem hat man auch sie ungarisch beerdigt . Ich wünsche euch nicht diese Erlebnisse . Der Pfarrer kommt aus der Nachbargemeinde . Er sagte zu mir : Ihre Mutter sitzt bereits zur Rechten Gottes , es ist ihr egal in welcher Sprache sie beerdigt wird . Ich sagte ihm : Was würden sie sagen , wenn in Siebenbürgen der Ungar Sándor Nagy als Alexandru Nagi beerdigt würde . Worauf der Pfarrer : Ja , das ist etwas ganz anderes , dort kann das Magyarentum eben seine eigenen Pfarrer hervorbringen . Darauf ich : Wir auch ! Aus unseren Reihen kamen Bischöfe , Staatspräsidenten , aber anscheinend nützt uns das nichts . Es tue ihm leid , so sei das eben in Ungarn , erwiderte er . Am Ende erreichte ich durch meine Hartnäckigkeit , dass der Chor nicht alles ungarisch singen mußte . Die Frauen haben Angst vor dem Pfarrer . Er erteilt ihren Kindern die Erstkommunion , die Firmung , die Trauung und er bestimmt am Ende die Sprache der Beerdigung .
Als der Pfarrer bei der Beerdigung meiner Mutter die Lieder ungarisch zu singen begann , trauten sich die Frauen nicht deutsch zu singen . Nur die letzten drei Lieder durften sie für meine Mutter deutsch singen . Danach , in der Kirche hat er in fehlerfreiem Deutsch meine Mutter verabschiedet . -Ich dachte der Pfarrer sei ein Ungar gewesen - sagte lakonisch András . -Nein (...)
So viel aus dem Rückblick eines Ungarndeutschen auf die Nachkriegsjahrzehnte , aus dem sich die gegenwärtige Befindlichkeit der verbliebenen deutschen Minderheit in Ungarn vielleicht aucn für Außenstehende besser verstehen lässt .
Till
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