Sonntagsblatt 6/2006 | Page 19

Sie kamen , sie gingen , sie blieben

Erinnerung an Orte in NRW , an denen sich Ereignisse der Ein- und Auswanderungsgeschichte zutrugen Die Botschaft dahinter : Zuwanderung ist seit Jahrhunderten alltäglich
Manchmal hat Thomas Kufen es nicht einfach . Als Integrationsbeauftragter von NRW ist es sein Beruf , die Eingliederung der Zugewanderten zu beschleunigen . Nützlich ist dabei vor allem eine aufgeschlossene Bevölkerung . Doch manche Menschen in NRW sind keineswegs allzu aufgeschlossen gegenüber Zuwanderern .
Was macht man da als Integrationsbeauftragter ? Man beweist , dass Wanderbewegungen von Volksgruppen die normalste Sache der Welt sind - und dass es sie direkt vor der Haustür schon seit vielen Jahrhunderten gibt . Deshalb hat Kufen einen historischen Reiseführer entworfen . Der präsentiert Erinnerungsorte der Migrationsgeschichte - und beweist , dass Zu- und Abwanderung überall und jederzeit auf dem Gebiet des heutigen NRW stattfanden . Im Internet ist ein Entwurf bereits zu sehen ( www . routemigration . nrw . de ). Und weil Geschichte bekanntlich Geschichten erzählt , sind dort mit den Erinnerungsorten spannende Geschichten verbunden . Wir stellen einige vor :
Im Jahre 1683 wagte zum ersten Mal eine Gruppe Deutscher die Auswanderung nach Amerika . Es waren 13 Familien mennonitischen Glaubens . Erst kurz zuvor waren sie nach Krefeld geflüchtet . In der liberalen Stadt fanden viele Glaubensflüchtlinge Asyl . Doch allmählich wuchs der Unmut der Alteingesessenen angesichts der wachsenden Zahl von Flüchtlingen . Und so nahmen die 13 Familien das Angebot William Penns , des Gouverneurs von Pennsylvania , an .
Der verhieß allen Einwanderern , vor allem Mennoniten und Quäkern , Glaubensfreiheit und Ackerland zum Siedeln . Ein Freund Penns war der deutsche Anwalt Franz Daniel Pastorius . Er wurde beauftragt , Siedler aus Deutschland zu werben und ihre Einwanderung zu organisieren . Pastorius gründete “ Germantown '’, die erste deutsche Sieldung der neuen Welt , und empfing dort noch 1683 die 13 Familien . Das in Krefeld aufgestellte Pastorius-Denkmal ziert sein Ausspruch : “ Im waldreichen Pennsylvanien , in der öden Einsamkeit ” wollten die Ausgewanderten nun “ minder sorgenvoll den Rest ihres Lebens in deutscher Weise , das heißt wie Brüder hinzubringen ”.
Weit können es Auswanderer von Rhein und Ruhr bringen . Davon zeugt nicht nur ein Denkmal in Liblar , dem Geburtsort von Carl Schurz . Das beweist vor allem die Biografie dieses mutigen Rheinländers . 1829 wurde er in dem Nest Liblar bei Köln ( heute Erftstadt ) geboren , nach der missglückten Revolution 1848 musste er aus Deutschland fliehen - doch schon 40 Jahre später bildeten sich begeisterte Menschenaufläufe , wenn er über die Fifth Avenue in New York spazierte . Und als er 1906 in New York starb , wurde ihm zu Ehren ein Staatsbegräbnis ausgerichtet , war er unter Abraham Lincoln doch zum Innenminister der USA aufgestiegen , als Gegner der Sklaverei und Verfechter des Schwarzenwahlrechts bekannt geworden , und hatte er doch erfolgreich gegen die Korruption im öffentlichen Dienst gekämpft ( siehe dazu die spannende Carl-Schurz-Biografie von Walter Kessler ). Sein Ruf als unbestechlicher Freiheitsfreund war im Land verbreitet . Berühmt ist er auch wegen seines für integrationswillige Zuwanderer idealtypischen Mottos “ Ubi Libertás , ibi Patria ” - Wo Freiheit ist , da ist Vaterland .
Auswanderung war selten ein Sprung ans gedeckte Tischchen . Das bezeugen die sauerländischen Siedler , die zwischen 1763 und 1772 ihre Heimat Oberhundem verließen und ins Banat übersiedelten ( heute Rumänien ). Sie reihten sich ein in den Strom der sogenannten Donauschwaben , die auf Einladung Kaiserin Maria-
Theresias und ihres Nachfolgers Joseph II . dorthin zogen . Die gekrönten Häupter lockten die Siedler mit einem steuerfreien Jahr und günstigem Bauholz .
Denn nach dem Sieg über die Türken 1683 war das neu gewonnene Land noch immer menschenleer . Um das Land beherrschbar zu machen und um sich vor Türkenangriffen zu schützen , wurde das verwüstete und öde Donaubecken mit rund 150 000 Einwanderern gefüllt , darunter grob geschätzt 1500 Sauerländer . Aus dieser Zeit stammt die herbe Einwanderererfahrung “ Dem ersten der Tod , dem Zweiten die Not , dem Dritten das Brot .”
In nur 90 Jahren , zwischen 1840 und 1930 , explodierte im Ruhrgebiet die Bevölkerungszahl . Um 1840 lebten dort etwa 250 000 Menschen . Um 1930 waren es über vier Millionen . Eine der größten Völkerwanderungen der neueren Geschichte fand statt - weil an Ruhr und Emscher die Zechen wie die Pilze erblühten . Vor allem seit 1880 zogen Werber durch die preußischen Ostprovinzen Westpreußen , Ostpreußen , Schlesien und Posen , um Arbeitskräfte zu locken . In manchen Gruben gab es bald fast nur noch Polen , weshalb sie als Polenzechen verschrien waren , zum Beispiel die Bochumer “ Zeche Hannover ”.
Schon Ende des 19 . Jahrhunderts klagen dort Alteingesessene , man sei fremd im eigenen Land . Wer würde sich heute noch fremd fühlen unter Schimanskis und Pilawas ?
Während der 50er Jahre hieß NRW auch “ das Flüchtlingsland ”. Denn hierhin verschlug es die meisten , etwa 2,4 Millionen Vertriebene aus den Ostgebieten und Flüchtlinge aus der DDR . Bei der Integration der deutschen Einwanderer kommt NRW der Arbeitsmangel in den Industriezentren zugute . Weil aber auch viele Vertriebene sich an einem Ort sammeln wollen , gründet das Evangelische Hilfswerk 1949 die Flüchtlingsstadt Espelkamp . Das vormals kleine Örtchen mit 1400 Bewohnern wächst binnen weniger Jahre um das Zehnfache an Zahl und Raum . Beabsichtigter Nebeneffekt : In die wirtschaftlich schwache und untervölkerte Region Ostwestfalens zieht Leben ein .
Es ist der 10 . September 1964 , als der Zug am Bahnhof Köln- Deutz einläuft . Darin sitzen rund 1200 neue Gastarbeiter . Unter ihnen : der 38-jährige Portugiese Armando Sa Rodrigues . Plötzlich wird über Lautsprecher sein Name ausgerufen . Der Zimmermann wird von Männern mit Schlips und Anzug umringt , bekommt einen Blumenstrauß in die Hand und wird von Fotografen abgelichtet . Schließlich schenkt man ihm ein Moped , während die Kapelle “ Wem Gott will rechte Gunst erweisen ” spielt .
Er ist der per Zufall ausgeloste millionste Gastarbeiter . Organisiert wurde die Feier von den Arbeitgeberverbänden . Die tickten schon damals zuwanderungsfreundlich .
Zwischen Roggenfeldern und Bauernhöfen erscheinen im westfälischen Hamm immer wieder Shiva und Vishnu , zwei Götter der Hinduisten . Denn in Hamm-Uentrop ragt der größte tamilische Hindu-Tempel Europas in die Höhe , benannt nach Kamadchi Ampal , der “ Göttin mit den liebevollen Augen ”.
Zum jährlichen Tempelfest am 11 . Juni pilgern seit 1993 Tamilen aus ganz Europa hierhin . In NRW wurde der Tempel errichtet , weil andere Bundesländer ihre Asylanten konsequenter abschoben .
Folglich blieben zwischen Rhein und Weser mehr Tamilen übrig . Unter den meist 20 000 Gästen im Juni befinden sich von Jahr zu Jahr aber auch mehr Nichthindus , die zuschauen , wenn die Gläubigen den Schrein der Göttin Kamadchi durch die Straßen Hamms tragen . Denn anders als Muslime gelten Hindus noch immer als exotisch . In NRW gibt es die Exotik gratis .
Till-R . Stoldt Bearbeitet : M . M .
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