Sonntagsblatt 6/2006 | Page 18

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In diesen Lagern gab es keine führenden Nationalsozialisten . Auf Befehl Ulbrichts hatte man die gesamte Bevölkerung der Sowjetzone durchkämmt und jeden festgenommen , der von Denunzianten gemeldet worden war .
Zu den elf Schweigelagern gehörte auch “ Fünfeichen ” bei Neubrandenburg , wo etwa 6500 Häftlinge ihr Leben verloren . Dort wurde u . a . auch der spätere Professor Dietrich Holsten als Fünfzehnjähriger 1945 eingewiesen und bis 1948 festgehalten , ohne Verurteilung , ohne Benachrichtigung der Angehörigen , ohne Briefe schreiben oder empfangen zu dürfen .
Unter den Grausamkeiten , die Deutsche nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen zu erdulden hatten , ragen die von Ilja Ehrenburg geforderten Vergewaltigungen deutscher Frauen besonders hervor . In einer Film-Dokumentation (“ Befreier und Befreite ”, von Heike Sanders und Barbara Johr ) haben sich die Autorinnen mit einem bisher totgeschwiegenen Thema einer ganzen Frauengeneration beschäftigt : Während des Vormarsches wurden in Ostdeutschland und Berlin ca . 1,9 Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt . Etwa vierzig Prozent von ihnen mehrmals , bis zu hundertmal . Allein in Berlin kam es bis zu über 100.000 Vergewaltigungen , wobei auch zehn- bis vierzehnjährige Mädchen nicht verschont wurden . Tausende der Opfer starben sogleich an den Torturen oder suchten in ihrer Verzweiflung den Freitod . Allein in Berlin brachten sich viertausend vergewaltigte Frauen um .
In einer Krankenakte der Berliner Charite steht : “ Vom 27 . Januar bis Ende Juni in der Gegend von Schneidemühl täglich von mindestens dreißig Russen vergewaltigt .” Aus dem “ Zwangsverkehr ”, wie es amtlich verharmlosend genannt wird , sind etwa 300.000 Kinder hervorgegangen .
In der amerikanischen Armee wurden Vergewaltigungen , auf denen übrigens offiziell in allen Armeen die Todesstrafe stand , oft als Kavaliersdelikt angesehen . In einem Spottvers hieß es bei ihnen : “ This is my rifle , this is my gun , one is for killing , one is vor fun .”
Über Jahrzehnte war dieses Thema in Deutschland fast völlig tabuisiert worden , besonders von Seiten linker Kreise und Parteien . In der DDR durfte niemand davon auch nur reden . Aber auch noch heute stieß die Autorin auf eine Wand eisigen Schweigens .
Wenn von Verbrechen im Osten die Rede ist , dürfen die der Westalliierten nicht unterschlagen werden .
In den drei westlichen Besatzungszonen wurden zwischen 1945 und 1949 von den Besatzungsmächten 530.000 Deutsche ohne Gesetz oder richterliche Urteile jahrelang unter katastrophalen Bedingungen eingesperrt ( sog . “ automatischer Arrest ”). Die tägliche Brotration betrug 250 bis 350 Gramm , dazu jahrelang mittags eine heiße Wasserbrühe mit verfaulten Steckrüben . Über die Zahl der Opfer wurde nie gesprochen ; nach manchen Autoren geht sie in die Zehntausende .
Noch schlimmer waren die Verhältnisse in amerikanischen und französischen Kriegsgefangenenlagern , z . B . in Remagen , Komwestheim ( bei Stuttgart ). Großes Aufsehen erregte eine Dokumentation von James Bacques ( Der geplante Tod : Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945-1946 ), der nachweisen konnte , dass dort bis zu einer Million Deutsche u . a . an den Folgen mangelhafter Hygiene , an Seuchen und Unterernährung umgekommen sind .
Der berühmte amerikanische General Patton hingegen , direkt nach dem Kriege Militärgouverneur in Bayern , widersetzte sich der amtlichen Deutschland-Politik , wie sie vom Oberbefehlshaber der West- Alliierten , Eisenhower , durchgesetzt wurde . Er hielt es für schädlich , ehemalige Mitglieder der NSDAP generell zu verfolgen , da dies den Wiederaufbau gefährde . Außerdem forderte es die Beachtung des rechtstaatlichen Grundsatzes , dass die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten habe . Im September 1945 verlor er deshalb seinen Gouverneurposten und , wie es der Zufall oder sonst jemand wollte , verunglückte er zwei Wochen später tödlich ... Unabhängig davon muss anerkannt werden , dass die zuvor von Deutschland besetzten Weststaaten im Gegensatz zu den Ostund Südoststaaten niemanden um Haus und Hof brachten oder gar vertrieben .
Alle diese Opfer unmenschlicher Praktiken , aber auch die Deutschen in Südund Westdeutschland , denen vieles erspart blieb , sahen damals im 8 . Mai keinen Grund zum Jubeln . Der Versuch rückwirkend mit diesem Datum einzig und allein die Befreiung zu verbinden , stellt eine Geschichtsfälschung dar . Dieser Tag war eindeutig der Tag der bedingungslosen Kapitulation , d . h . die Unterwerfung auf Gnade und Ungnade . Eisenhowers Proklamation Nr . 1 (“ We come as conquers ...”) und die Direktive vom 4 . April 1945 (“ Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke der Befreiung , sondern als besiegter Feindstaat ”) lassen keinen Zweifel . Der Krieg war zwar zu Ende , aber Frieden herrschte noch lange nicht . Das Morden , Vergewaltigen , Quälen , Berauben und Vertreiben ging weiter . In Potsdam trafen sich Anfang August 1945 die “ Großen Drei ”, Stalin ( UdSSR ), Truman
( USA ) und Churchill bzw . Attle ( GB ), wo sie kurzerhand über Millionen Schicksale verfügten . So billigten sie z . B . die Ausweisung Millionen Deutscher aus der Tschechei , Polen und den deutschen Ostgebieten und die Aufteilung Deutschlands . Entsprechend heißt es im Potsdamer Abkommen u . a . “ Das deutsche Volk fängt an , die furchtbaren Verbrechen zu büßen .” Die Hoffnungen der Deutschen , die sich von der Konferenz Verbesserungen ihrer Lage versprochen hatten , zerplatzten wie Seifenblasen . Eine schwere Last - der Staatsterrorismus Hitlers - war den Deutschen genommen worden , aber Befreite waren sie deshalb noch lange nicht , und dass ließ man sie allerorten spüren . Damit soll die Tatsache , dass es auch Befreite gegeben hat , keineswegs übersehen werden . Hier ist auf die große Zahl jener Menschen hinzuweisen , die aus Gefängnissen und Konzentrationslagern befreit wurden .
Im letzten Jahrzehnt , besonders in den Jahren der fünfzigjährigen Wiederkehr des Kriegsendes , ist es üblich geworden , den 8 . Mai allein als Befreiung darzustellen und die dunkle Seite der Medaille zu ignorieren . Dahinter steht die Ansicht , dass die unter Hitler begangenen Greueltaten so ungeheuerlich seien , dass dagegen die an Deutschen verübten Verbrechen unbeachtlich wären und das man nicht aufrechnen dürfe .
Was aber heißt aufrechnen und relativieren ? Doch mehr oder weniger nichts anderes , als dass , wenn man von deutschen Verbrechen die der anderen abziehe , nur noch wenig oder nichts mehr zu Lasten Deutschlands übrigbliebe . Welch eine unsinnige Vorstellung bzw . Unterstellung . Als ob man zwei Morde verschiedener Krimineller miteinander verrechnen , die Kriegsverbrechen Hitler- Deutschlands durch Abtraktion aus der Welt schaffen könne . Dennoch machen diese Aufrechnugsvorwürfe einen Sinn , wenn auch einen üblen : Sie sollen verhindern , dass die an Deutschen begangenen Verbrechen überhaupt zur Sprache kommen und Deutschland für alle Zeiten als das einzige Land der Schuldigen dasteht . Die von Ilja Ehrenburg geforderten und erfolgten Verbrechen an Deutschen , die Massaker in Schlesien , Böhmen , Jugoslawien und anderswo , die Deportation Tausender Deutscher in die Sowjetunion sollen für immer verschwiegen , tabuisiert werden . Wer sich an diese Sprachregelung nicht halten will , erfährt den Vorwurf ( von Deutschen !!!), mit Aufrechnen die deutsche Schuld verkleinern , relativieren zu wollen . In Wahrheit kommt es darauf an , all der Millionen Opfer zu gedenken , die der Krieg auf allen Seiten gefordert hat , kommt es darauf an , der historischen Wahrheit die Ehre zu geben .