Sonntagsblatt 5/2015 | Page 9

BÉLA BELLÉR (Ein Aufsatz aus dem Jahre 1990) Die ungarische Nationalitäten- Schulpolitik von der Ratio Educationis bis heute 2.Teil Zwischen dem Ausgleich und den Revolutionen um 1918/19 Belgrad, wo sie in einem provisorischen Zeltlager Unterschlupf fanden. Auf den Farbaufnahmen sehen wir deren Zeugnisse, den sandigen Boden, die Tage des Wartens, streng militärisch organi- siert, die Menschen, die aus ihrem Dorfmilieu in die Mitte der Kulissen der Naziideologie gelangten. Die Deutschen, die ihre putzigen Dörfer hinterließen, haben die unter sowjetische Oberhoheit gekommene Heimat als Flüchtlinge verlassen, aber sie sind zu Treibern geworden, wenigstens aber zu anteilnahmslosen Mitläufern. Aus den Lagern kamen sie nach einer Wartezeit in solche polnische Gebiete, die die Deutschen vor kurzem erobert haben. Nachdem die Deutschen mit Zustimmung der Russen Polen besiegten, hat Deutschland seine Grenzen um 150–200 Kilometer ostwärts verschoben. Das Schicksal der Bessarabien-, Schwarz - meer- und Baltendeutschen war es, im Warthegau den „germani- schen Lebensraum” zu füllen. Aus den annektierten Gebieten haben die Nazibehörden und die Besatzungsarmee 1,5 Millionen Polen vertrieben, im Warthegau hatte Arthur Geiser freie Hand bekommen. Die hier ansässige polnische und jüdische Bevölke - rung wurde auf brutalste Art und Weise vertrieben, nach Augen - zeugenberichten wurden Kinder den stillenden Müttern entrissen. Nach den Aufzeichnungen beobachtete der Großteil der von Weitem gekommenen schwäbischen Bauern diese Szenen taten- los, danach nahmen sie die polnischen Häuser in Beschlag. Zum Verstummen ihres Gewissens war neben der Nazipropaganda auch das aufreibende Lagerleben nötig: Nach Péter Forgács, der über den Exodus der Bessarabiendeutschen einen Film drehte, soll das Lagerleben die schwäbischen Bauern, die an Freiheit gewohnt waren, gebrochen haben. Auch so gab es Protestierende, aber diese wurden damit bedroht, sollten sie nicht in die für sie bestimmten Häuser einziehen, würden man sie ins Konzent ra - tionslager schicken. Es gab welche, die binnen eines Jahres Selbstmord begingen. Die Bessarabiendeutschen konnten nur einige Kriegsjahre, gekennzeichnet von Not, schlechten Neuigkeiten und Zittern, in den polnischen vier Wänden verbringen. Vor der Roten Armee sind sie 1944 in den Westen geflohen, und diejenigen, die geblie- ben sind und die nächsten Jahre erlebten, wurden mit Gewalt aus den Polen wiedereingegliederten Woiwodschaften umgesiedelt. Der jahrelangen Flucht und den Gelegenheitsverbrechen um zu überleben zum Trotz: In der DDR hat das stalinistische Regime sie eingeholt. Ihren Boden haben sie verloren, und das öffentliche Gedenken an ihr Schicksal war auch untersagt. Im wiedervereinigten Deutschland sind nur noch wenige Nach - kommen aktiv in den kleinen bessarabischen deutschen Organi - sationen. Einige besuchen Moldawien, um die Höfe ihrer Groß - eltern zu fotografieren, in der nun Fremde leben. In dem osteuro- päischen Kommen und Gehen verwischen langsam auch die Spuren der Bessarabiendeutschen, inmitten ähnlicher Schicksale bleibt auch ihres nur eine kleine Episode unter den Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Krimtataren, galizischen Lemken, Czernowitzer Rumänen und Slowakeimadjaren. Der Friede sei mit ihnen. Der füh rende liberale Adel Ungarns zog von der Niederwerfung des Freiheitskampfes eine doppelte Schlussfolgerung: 1. Das Wei - terbestehen der Habsburger Monarchie ist von europäischem Interesse. 2. Da sich die Nationalitäten 1848/49 gegen die Ungarn wandten, kann die Integrität Ungarns nur durch die Donau-Mo - narchie gesichert werden. Man muss also mit den Österreichern Übereinkommen, um mit ihrer Hilfe die staatsfeindlichen Bestre - bungen der Nationalitäten gegen Ungarn ersticken zu können. Als ideologische Grundlage der neuen Nationalitätenpolitik diente die Fiktion einer ungarischen politischen Nation, der Verkoppelung der französischen Staatsnation mit der alten unga- rischen feudalen Adelsnation. Dieser Gedanke – die historisch– juristische Person der Nationalitäten leugnend – war nicht geneigt, in Ungarn etwas anderes als die ungarische politische Nation anzuerkennen, der jeder Staatsbürger Ungarns –ungeachtet seiner Sprache und seiner Abstammung – gleichberechtigt angehörte. Aufgrund dieser Ansicht entstand am 7. Dezember 1868 der XLIV. Gesetzartikel 1868 über die Gleichberechtigung der Natio - nalitäten. Demnach ist die Sprache der Gesetzgebung und der obersten Behörden ungarisch, die Gesetze können aber auch in der Sprache der Nationalitäten bekanntgemacht werden. Die offi- zielle Sprache der Gemeindeverwaltung ist jedoch die dort meist benutzte Sprache. Aufgrund des Gesetzes ist der Staat verpflich- tet, innerhalb der Grenzen seiner Möglichkeiten sich um den schulischen Muttersprachenunterricht der Staatsbürger zu küm- mern, und in den Universitäten Lehrstühle für die Nationalitä - tensprachen zu gründen. Die gesetzlich gesicherte Möglichkeit des Nationalitätenun - terrichts versuchte der am 5. Dezember 1868 angenommene be - rühmte XXXVIII. Gesetzartikel 1868 zu realisieren, ein Ge - setzartikel des Gesetzes von József Eötvös über den Volksun - terricht, welcher das System eines bürgerlich–nationalen Un - terrichts in Ungarn begründete und breiten Volksschichten eine Ausbildung sicherte. Der doppelte Grundsatz des Gesetzes, näm- lich die Schulpflicht und das liberale Prinzip der Unter - richtsfreiheit begünstigte auch den Nationalitätenunterricht. Der § 58 legt das Recht zum Muttersprachenunterricht unmissver- ständlich fest: „Jedem Schüler soll der Unterricht in seiner Muttersprache erteilt werden, wenn diese Sprache in der Gemeinde eine der gebräuchlichen ist. In den Gemeinden mit gemischter Sprache soll so ein Lehrer beschäftigt werden, der in der Lage ist, in den Sprachen zu unterrichten, die gesprochen wer- den. In dichtbevölkerten Gemeinden, wo unterschiedliche Sprachen gebraucht werden, sollen – soweit es die Möglichkeiten der Gemeinde zulassen – Hilfslehrer angestellt werden, die ver- schiedener Sprachen mächtig sind.” Im Einklang mit dem Natio - nalitätengesetz bestimmt der § 80 in den staatlichen Schulen die Muttersprache der Schüler als die Unterrichtssprache. Die Erkenntnis der Bedeutung des Muttersprachenunterrichtes schließt natürlich den Unterricht der Staatssprache nicht aus. Das Gesetz – über ein weises Maßhalten zeugend – wollte die ungari- sche Sprache in die Nationalitätenschulen nach und nach einfüh- ren. 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