Sonntagsblatt 5/2015 | Page 29

Ge fahr, vor der uns nichts schützen kann. Das ist die europäische Kultur", sagte er in seiner Rede zur Eröffnung der Kisfaludy- Gesellschaft im Jahre 1872. Den tragischen Umstand, dass der Niedergang des madjarischen Geistes oft das Aufblühen Ungarns, sein Wiederaufflammen aber den Verfall des Landes bedeutet hatte, konnte Toldy mit seiner europafeindlichen Einstellung na - tür lich nicht erkennen, und auch seine Schüler und Nachfolger haben ihn bis zum heutigen Tage nicht erkannt. Aus: Johann Weidlein „Die verlorenen Söhne” O Begegnung in Sibirien Tiefwinterliche sibirische Unendlichkeit bei 40 Minusgraden und darunter. Der mit gigantischen Baumstämmen beladene LKW rattert im Schritttempo durch die Wildnis und droht jeden Augen - blick seinen Geist aufzugeben. Die zwei Männer in der Fahrerkabine – Kriegsgefangene–, denen als Berufsfahrer das Glück hold ist, nicht im Freien schuf- ten zu müssen und die Holztransporte durch schwieriges Gelände zu meistern haben. Zur Flucht besteht ohnehin keine Chance: Hunderte von Kilometern keine Tankmöglichkeit, und wenn sie bei dieser Witterung aus technischen Gründen mit dem PKW hän- gen blieben, wäre es um sie geschehen. So befördern sie auf rela- tiv kurzen kontrollierten Trassen tagaus – tagein ihre Ladungen immer mit der Befürchtung, einem Schneesturm oder dem Versagen des Motors ausgeliefert zu werden. An die beißende Kälte hat man sich bereits mehr oder weniger gewöhnen müssen, doch heute war es besonders eisig und der orkanhafte Wind trug ebenfalls sein Scherflein zur Beunruh igung beider Männer bei, denn sie waren auf einer ihnen bislang unbekannten Route unter- wegs… Die Monotonie der Einsamkeit lag über der unübersehba- ren Weite Sibiriens bzw. jenes Fleckens davon, auf dem sie sich langsam vorwärtsbewegten… „Da vorne…” raunte der Beifahrer, „da steht doch etwas im Wald…” Tatsächlich: Als sie näher kamen, gewahrten sie eine Hütte abseits des Weges im Wald, die bewohnt zu sein schien, denn aus dem Rauchfang schraubten sich leichte Rauchsäulen himmel- wärts… „Hier, in der Ödnis, ein Häuschen!!! Das ist eine Seltenheit und merkwürdig”, meinte der Fahrer… „Doch lass uns eintreten! Viel - leicht hat man einen Tee für uns…” Und die beiden taten, was ihnen strengstens untersagt war, lie- ßen den Wagen bei laufendem Motor stehen und klopften an. Das ärmliche Häuschen aus Baumstämmen wirkte jedoch solide, und auch das Dach trotzte erfolgreich den hartnäckigen Windheimsu - chungen. Verlegen grüßten die Eintretenden in der russischen Landes - sprache, und ihr Gruß wurde von dem alten Paar freundlich erwi- dert. Ohne viel um den heißen Brei herumzureden sagten sie, wer sie seien und baten um einen warmen Tee. „Den könnt ihr haben”, raunte die Alte, „denn bei dieser Witterung ist es ja eine Überlebenskunst durch die Einöde zu kommen”. Die Gespräche waren kurz und zweckmäßig, und bald schickte sich die Alte an, den Raum zu verlassen. Der zurückgebliebene Alte fragte ohne Umschweife, woher sie stammen, denn dass sie Kriegsgefangene waren, darauf brauchte seit Anbeginn nicht ausdrücklich hingewiesen werden. Im Flüsterton drang der Alte fragend auf die beiden ein, er woll- te unbedingt ihre Herkunft erfahren… „Aus Rumänien”, antwortete der Fahrer. „Ja, woher, aus welcher Gegend Rumäniens?” forschte der Alte nach. „Aus dem Banat”, wunderte sich nun der Beifahrer… „Und wo aus dem Banat?” drängte der Alte weiter… Beiden Gefangenen wurde es nun mulmig, und sie nannten die Großgemeinde an der ungarischen Grenze. „Dann sind wir Landsleute…” erwiderte der Alte diesmal in deutscher Sprache. Fragend und erstaunt blickten ihn die Gefangenen an… Der Alte nannte seinen Namen und sprach nun rasch, denn er befürchtete die Rückkehr der Alten aus dem Nebenraum. „Ich war Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg, auch mich hat es in diese Wildnis verschlagen, und nach den Wirren des Krieges blieb ich hier, nachdem ich meine Frau kennen gelernt und gehei- ratet hatte. So war ein Zurück in unser schönes Banat nicht mehr möglich gewesen. Falls ihr dieser Hölle entkommen und die Heimat erreichen soll tet, sagt bitte meinen Angehörigen, ich sei am Leben…” In diesem Augenblick brachte die Alte den Tee, und die Fort - setzung des Gespräches war leider nicht mehr möglich. Schweigsam schlürften die Männer das wohltuende starke Ge - tränk, bedankten sich bei dem wohlwollenden Paar und verließen gedankenschwer die Hütte. Auch während der Weiterfahrt wurde kaum etwas gesprochen, so perplex waren beide… Jahre vergingen, und die beiden Fahrer überlebten die Wildnis und die Gefangenschaft, doch als sie schließlich nachhause ins Banat durften, wagte es niemand, über dieses Ereignis zu spre- chen: Zu tief saß ihnen die Angst in den Gliedern, denn noch stand Rumänien im Einflussbereich der Sowjetunion, und was da so allerhand geschehen hätte können, war jedem klar. Erst viele Jahre später wurden die Anverwandten des Alten von diesem seltsamen Treffen in der sibirischen Wildnis äußerst disk - ret unterrichtet. Dem Verfasser wurde vor Jahrzehnten diese Begebenheit vom Sohn des einstigen Fahrers erzählt. Hans Dama O Es geschah vorgestern: Sylvester Matuschka (eigentlich ung. Matuska Szilveszter) Wer/was war dieser Mann mit dem eigen - artigen Namen? Kurz zusammengefasst: Sylvester Matuschka, war ein ungarischer Eisen bahn attentäter und Massenmörder. Als Kind hörte ich oft diesen Namen: Matuschka. Und auch das Wort Viadukt. Freilich konnte ich damals nichts damit anfangen, habe wirklich nur Eisenbahn darunter verstanden. Heute – nach vielen Jahrzehnten – fahre ich oft über Biatorbágy (Wiehall+ Klein - turwall) nach Edeck/Etyek und muss da unterm „Viadukt” hin- durch. Natürlich. Dann fällt mir immer dieser Matuschka ein und aus Neugierde bin ich im Internet der Geschichte nachgegangen. Sylvester Matuska wurde am 29. Januar 1892 in Csantavér bei Maria-Theresiopel geboren; er stammte aus einer römisch–katho- lischen Familie in Csantavér, dem heute noch größten Dorf mit ungarischer Bevölkerungsmehrheit im Gebiet (serbisch Opština) der Stadt Maria-Theresiopel (Szabadka), die bis 1918 zu Ungarn gehörte. Sein Vater war Antal Matuska, seine Mutter Anna Né - (Fortsetzung auf Seite 30) 29