Sonntagsblatt 5/2015 | Page 28

deshalb ihren Sohn im Jahre 1813 nach Cegléd in die erste Klasse des Gymnasiums, damit er gut ungarisch lerne. 1814 bis 1818 besuchte er das Pester Piaristengymnasium, wo eifrig madjarisiert wurde, wie es die Jahresberichte dieser Anstalt vor 1945 immer wieder stolz verkündeten. Die 6. Klasse absolvierte der junge Schedel in Kaschau, um Slowakisch zu lernen. Slowakisch lernte er dort zwar nicht, aber in Kaschau erfolgte seine erste Begegnung mit der ungarischen Literatur. Den dreijährigen philosophischen Lehrgang absolvierte er in Pest, 1819 bis 1822. Hier schloss er Freundschaft mit den Dichtern J. Bajza und M. Vörösmarty, mit welchen er später jahrzehntelang die Geschicke der ungarischen Literatur leitete. Besonders bedeutsam war sein Zusammen tref- fen mit dem phantastischen Historiker István Horvát, der 1825 seine „ Bilder aus der ältesten Geschichte Ungarns”, eine „ in ihren Feststellungen bizarre Verirrung” herausgab. Wenn dieser Pro- fessor an der Universität die übrigens falsche Behauptung von der Abstammung der Madjaren von den Hunnen verkündete, ihre Ver wandtschaft mit den Finnen widerlegte und sie mit den pompösen Ostvölkern verband, mit den Assyrern, den Arabern und den unbesiegbaren Parthern, brachte er durch diesen historisch und geographisch grenzenlosen Optimismus seine Zuhörer in helle Begeisterung und ließ deren Patriotismus hoch auflodern.
Seit 1818 arbeitete Schedel auf dem Gebiete der ungarischen Literatur. In K. Kisfaludys Zeitschrift „ Aurora” erschien seine Be- arbeitung von Schillers Räubern(„ Haramiák”, 1823). Zwischen- durch studierte Schedel Medizin, schrieb aber auch weiterhin Gedichte, Novellen, literarhistorische Abhandlungen, Kritiken usw. 1828 veröffentlichte er in deutscher Sprache die erste synthetische Geschichte der ungarischen Literatur, das „ Handbuch der unga- rischen Poesie”. Dieses Werk war der Abschluss einer langen ungarischen Entwicklung: für die deutsche Öffentlichkeit geschrieben, ganz aus deutschem Geiste geboren, machte es die Emanzipation des ungarischen Geistes von dem deutschen bewusst und schuf hierdurch die Grundlagen für eine unabhängige madjarische Entwicklung. Diese „ Emanzipation” zeitigte alsbald sonderbare Früchte: Schedel und seine Freunde griffen den ungarischen Erzbischof und Dichter Ladislaus Pyrker an, weil er in deutscher Sprache dichtete, denn er beweise damit, sagten sie, dass er kein guter Patriot sei; und als der hochverdiente greise Kazinczy, Sche- dels bisheriger Mentor und Freund, den Angegriffenen in Schutz nahm, musste auch er sich eine scharfe Zurechtweisung gefallen lassen, weil er deutsche Werke ins Ungarische zu übertragen wag- te. Seit 1828 nannte sich Schedel „ Toldy”, amtlich ließ er seinen Namen erst 1847 madjarisieren( UK. 3590 – 47). Im Jahre 1830 wurde er Mitglied, 1831 Bibliothekar der Akademie der Wis sen- schaften.
Bis 1848 betätigte er sich als literarischer Agitator, indem er die Arbeit der 1825 gegründeten Akademie organisierte, literarische Gesellschaften und Organe gründete, aber auch als Arzt war er hervorragend. Im Jahre 1833 wurde er außerordentlicher Profes- sor der Diätetik, gab die erste ungarische medizinische Fachzeit- schrift, namens „ Orvosi Tár”, und ein lateinisch – ungarisches ärztliches Fachwörterbuch heraus und begründete dadurch die ungarische ärztliche Fachsprache. Die Bibliotheken der Akademie und der Universität gestaltete er auf Grund der Ordnung der Münch- ner königlichen Bibliothek neu, die er 1847 studiert hatte. In- zwischen veröffentlichte er die Werke K. Kisfaludys, die selbständigen Werke Kazinczys, Daykas Gedichte, Czuczors Werke usw. 1842 gründete er die „ Nationale Bibliothek”, 1837 war in Zusam- menwirken mit Vörösmarty und Bajza die Zeitschrift „ Athenae- um” vorausgegangen. Diese drei Männer bildeten damals das allmächtige Triumvirat der ungarischen Literatur. Einen Löwenan- teil hatte Toldy auch bei der Gründung der Kisfaludy-Gesellschaft, deren Direktor er 1841 wurde. Zahllose wissenschaftliche Artikel veröffentlichte er in diesen und anderen von ihm gegründeten oder redigierten Zeitschriften( Tudománytár, Figyelmezô, Szép- irodalmi Szemle, Magyar Tudós Társaság Évkönyvei usw.). 1842 wurde er von der Jenaer Universität mit einem Doktordiplom ausgezeichnet. Im Jahre 1848 begann der wichtigste Abschnitt seines Lebens, in welchem er sich nur noch der Erforschung der ungarischen Literaturgeschichte widmete. Seine ersten Werke waren: „ Cultur- zustände der Ungarn vor der Annahme des Christentums”, Wien 1850( die übrigen sind alle in ungarischer Sprache erschienen) und „ Die ungarische historische Dichtung vor Zrínyi”, Wien 1850. In Pest erschienen die ersten beiden Bände seines großen Werkes „ Geschichte der ungarischen Nationalliteratur”, das 1862 bereits die dritte Auflage erlebte. Im Jahre 1854 erschienen weitere zwei Bände, welche die ungarische Literatur bis 1836 behandelten. Auf Grund seiner Vorträge an der Universität gab Gustav Steinacker Toldys ungarische Literaturgeschichte 1863 in deutscher Sprache heraus. Seit 1850 war Toldy Privatdozent der Universität für Lite- ra turgeschichte, und seine in patriotischem Geiste gehaltenen Vorträge wurden von Pfarrern, Schriftstellern und anderen be- sucht. Als Unterrichtsbuch gedacht war „ Die Geschichte der ungarischen Nationalliteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart”( 2 Bände, Pest I864 – 1865). Nach Toldys Tod wurde das Werk in einem Band zusammengefasst durch P. Gyulai; es war bis 1945 in vielen Gymnasien Ungarns als Lehrbuch eingeführt. Im Jahre 1855 stellte er das „ Handbuch der ungarischen Poesie” in 2 Bänden zusammen. Alle diese Werke bilden zusammen mit Toldys Nekrologen und anderen Veröffentlichungen die Grund- lagen der ungarischen Literaturwissenschaft.
In den Jahren des Absolutismus gab es keinen eifrigeren Hüter des nationalmadjarischen Bewusstseins als Toldy. Da die Akade- mie vorerst nicht arbeiten durfte, versammelte er die Dichter und Schriftsteller insgeheim in seinem Haus, und er war es auch, der die Akademie und die Kisfaludy-Gesellschaft zu neuem Leben erweckte. Er erzog der ungarischen Literaturgeschichte neue For- schergenerationen, gab unermüdlich die Werke ungarischer Schrift steller heraus in der von ihm gegründeten Reihe „ Magyar Remekírók gyémántkiadása”, auch ungarische Sprachdenkmäler veröffentlichte er in großer Zahl.
Im Jahre 1861 wurde er ordentlicher Professor der ungarischen Sprache und Literatur. Das Jubiläum seiner 50jährigen schriftstellerischen Tätigkeit wurde 1871 als Nationalfeier begangen, der König zeichnete ihn mit dem Ritterkreuz des Leopold-Ordens aus, der Landtag gewährte ihm ein jährliches Geschenk von 4000 Gulden, damit er seine ganze Kraft der Literatur widmen könne. Er arbeitete unermüdlich bis zu seinem Tode am 10. Dezember 1875. Er war Organisator und Agitator und er brachte auch ein bis heute gültiges System in die Entwicklung der ungarischen Lite- ratur. Er musste nicht nur das Material zusammentragen, sondern dieses auch ordnen, wobei er freilich gewisse Fehler beging, indem er den Einfluss fremder Literaturen nicht beachtete. Er ordnete seinen Stoff ausschließlich nach dem nationalen Gesichtspunkt: So gab es zum Beispiel ein „ Zeitalter des Verfalls” von 1711 bis 1772 und ein „ Zeitalter der Wiederbelebung” von 1772 bis 1825. Über das Zeitalter des Verfalls berichtet jedoch die Ungarische Geschichte von Hóman-Szekfû( Bd. IV, S. 390), es sei im wahrsten Sinne des Wortes der Erbauer Ungarns gewesen; das Ende des „ Zeitalters der Wiederbelebung” aber war nach demselben Ge- schichtswerk ein Tiefstand der madjarischen Geistigkeit( Bd. V. S. 259), und ein Széchenyi habe kommen müssen, um die ungarische Geistigkeit an Europa wieder heranzuführen und sie aus ihrem Verfall emporzuheben. Für Toldy jedoch bedeutete gerade der europäische Geist die größte Gefahr für Ungarn: „ Vom Westen her bedroht uns eine
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