Sonntagsblatt 5/2015 | Page 27

Bekannt im Dorf wurde die Begebenheit als ein Schorokscharer Familienvater mittleren Alters mit Hang zu skurrilem Humor einem Einheimischen das „ Zigeunerthema” auf seine Weise interpretierte und ihn unmissverständlich aufklärte: „ Schau her, ich heiße Johann Müller *, das ist doch wohl ein deutscher Name, habe blonde Haare, blaue Augen und eine helle Haut. Sieht in deiner Vorstellung so ein Zigeuner aus? Hast du eigentlich schon einmal deine Augen( schwarzbraun), deine Haare( schwarzbraun) und deine Haut( dunkler Teint) kritisch betrachtet?” Der Mann wusste darauf nichts zu antworten und soll sich sehr geschämt haben.
Man muss natürlich den teilweise einfach dimensionierten Einheimischen zugute halten, dass die meisten über das Ungarn- Deutschtum nie informiert wurden und somit mit dem Hinter- grund der Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem Osten speziell aus Ungarn nichts anfangen konnten. Die Ortsbehörden hatten mit der Wohnraumzuweisung keine leichte Aufgabe vor sich, und oftmals musste die Polizei bei den Einweisungen zugegen sein. Sicher war die Lage für die einheimischen Hausbesitzer auch nicht ganz einfach, denn sie sahen in den neuen Hausgenossen oft Eindringlinge, die ihren Lebensstil durch ihre Anwesenheit nachhaltig störten und auch veränderten.
Die ersten Schritte zu unserer Integration waren für beide Sei- ten nicht einfach, und im Nachhinein muss man sich wundern, dass sie doch – Gott sei Dank – gelungen ist!!
Unsere Sippe hatte sich entschlossen und bat darum, womöglich in einer Gemeinde untergebracht zu werden. Erstaunlicherweise wurde dem stattgegeben und erstmals tauchte für uns der Name unserer neuen „ Heimatgemeinde” Hüttlingen auf. Mit dem Na- men und ihrer Lage am Kocherfluss konnte natürlich keiner von uns etwas anfangen.
Als dann am betreffenden Morgen am Lagertor einige offene US-Militärfahrzeuge zum Beladen bereit standen, herrschte bald geschäftiges Treiben – obwohl eigentlich nicht viel zu verstauen war!! Die meist dunkelhäutigen Lastwagenfahrer standen gelangweilt, rauchend und Kaugummi kauend dabei und wunderten sich bestimmt über uns und unser armseliges Gepäck, das uns wie Bettler – zu denen wir ja geworden waren!! – erscheinen ließ. Dass wir aus Ungarn vertriebene Deutsche waren, hatte ihnen be- stimmt niemand gesagt.
Sie taten ihren Job, waren zu uns nicht unfreundlich, und so kamen meine Cousine Maria und ich zum ersten „ Chewing Gum” unseres jungen Lebens. Einige Männer durften auch mit einer „ Lucky Strike” oder „ Pall Mall” ihrem alten Laster frönen. Ziga- retten waren damals ein kostbares Gut und nur auf dem Schwarz- markt für 5 RM pro Stück zu bekommen.
Nachdem die Habseligkeiten der Familien verstaut waren, ging es vom Lager auf der Landstraße in Richtung Norden nach Hütt- lingen. Genau erinnere ich mich noch an die Ankunft vor dem „ Weißen Schulhaus” – in dem ich einige Monate später die erste Klasse besuchen sollte.
Hier herrschte ein großes Durcheinander, denn alle Armee- fahrzeuge mit den für Hüttlingen zugeteilten „ Neubürgern”( amtlich) – sonst ohne Differenzierung „ Flüchtlinge” – standen auf dem Schulhof und wollten vom Bürgermeister und den Beauf- tragen der Gemeinde wissen, wo sie nun eingewiesen würden. Hier klare Antworten zu geben war bestimmt keine einfache Auf- gabe. Wir Kinder benutzten die Zwischenzeit für eine kurze Inspektion der Schule. Zwei der Klassenzimmer hatten Ankömm- linge aus Schlesien belegt, wobei die einzelnen „ Familienkojen” mit Leintüchern und Decken abgeteilt waren. Mittlerweile waren auf dem Schulvorplatz die „ Fronten” einigermaßen geklärt, aber mit einer Einweisung in das eigentliche Dorf sollte es für uns nicht klappen, weil im Kerngebiet absolut kein Wohnraum mehr zur Verfügung stand. Wir waren alle sehr gespannt, was nun geschehen sollte – müssten wir wieder zurück ins Lager!? Anscheinend hatten die Verant wortlichen eine andere Lösung gefunden, denn plötzlich waren die Filialen Niederal- fingen, Unter- Mittel- und Oberlengenfeld im Gespräch. Auf diese Teilgemeinden wurden die Mitglieder unserer Sippe verteilt. Meine Familie und die Familie meiner Cousine Maria sollten Wohnräume und Arbeit bei den beiden Landwirtsfamilien Josef und Kaspar Mayer in Mittellengenfeld erhalten.
Nach diesen amtlichen Festlegungen wusste von uns natürlich niemand wie weit dieser Weiler von der Muttergemeinde entfernt war. Danach wurde das Gepäck umgeräumt und die Lastwagen machten sich auf den Weg in die neue „ Heimat”!
Ich war sehr traurig, weil ich von meiner geliebten Schuster- Oma getrennt wurde, und meine Mutter sagte mir später, dass ich auf der ganzen Fahrt geweint hätte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie weit wir voneinander sein würden und ob ein Besuch überhaupt möglich wäre. Getröstet hat mich die Anwesenheit meiner gleichaltrigen Cousine. Wir waren sehr vertraut miteinander und hielten eng zusammen.
So ging es dann von besagtem Schulhaus in Hüttlingen den steilen Berg hinauf in Richtung Unterlengenfeld, und dann bogen wir bald nach Mittellengenfeld ein.
Die Gesichter meiner und Marias Mutter wurden immer länger und ihr gemeinsamer Kommentar lautete: „ Auf dieser » Tanya « bleiben wir nicht!”( Man muss hier anmerken, dass für die beiden jungen Frauen, die fast täglich nach Budapest kamen, die neue Situation absolut schockierend wirkte, zumal bei allen Schorok- scha rer die „ Tanya” ein Synonym für Abgeschiedenheit, Einsam- keit, Rückständigkeit, Armut und Primitivität darstellte)
Es bedurfte schon energischer Überzeugungsarbeit der beiden Männer, um die Frauen in die Realität zurückzuführen. Die Väter hatten ihnen eindringlich klar gemacht, dass es im Moment keine Alternative gäbe und dass man sich zunächst auf ein „ Tanyaleben” einstellen müsse.
PS: Im nächsten Beitrag werde ich das Leben und die Arbeit auf der Tanya beschreiben. * Name geändert
Vor 210 Jahren geboren – vor 140 Jahren gestorben

FRANZ TOLDY( 1805 – 1875)

Die maßgebenden Werke der ungarischen Wissenschaftler wurden bis zum Beginn des 19. Jahr- hundert in lateinischer oder deutscher Sprache geschrieben. Das Übergreifen der ungarischen Spra che auf alle Gebiete des Geisteslebens lockerte die internationalen Bindungen. Fast alle nationalen Wissenschaften Ungarns wurden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gegründet, seitdem sich Deutschstämmige in den Dienst nationalmadjarischer Bestrebungen gestellt hatten. Der Begründer, „ der Va- ter”, der ungarischen Literaturwissenschaft war Franz Toldy- Schedel. Toldy wurde am 10. August 1805 als Sohn des Postbeamten Franz Schedel und dessen Gemahlin Josefine Thallherr in Ofen geboren. Seine Eltern konnten kein Wort ungarisch, schickten
( Fortsetzung auf Seite 28)
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