2. Lage und Sprache der Deutschen in Ungarn aus der Sicht
der Wissenschaft – eine Bestandsaufnahme
2.1. Sprache und Identität der Ungarndeutschen
Die deutsche Minderheit in Ungarn ist die größte nationale Min -
der heit mit schätzungsweise 200–220 000 Personen. Mit etwa 600–
800 000 Personen ist allerdings die ethnische Minderheit der
Roma ebenfalls zu erwähnen. Alle anderen nationalen Minder -
heiten kommen insgesamt auf etwa 180 000 Personen. Diese
Angaben beruhen auf Eigenangaben bzw. amtlichen Schätzun -
gen. In der offiziellen Statistik sind infolge der historischen Ereig -
nisse niedrigere Angaben zu finden. Es ist zu erwähnen, dass die
Vertreibung von etwa 200 000 Deutschen in den Jahren 1946–48
auf Grund der Daten der amtlichen Volkszählung aus dem Jahre
1941 erfolgte. Daher sind auch laut Meinung des ungarischen
Zentralen Statistischen Amtes (ung. KSH) noch eine Zeit lang
keine sicheren Zahlen zu erwarten. Die Daten der Volkszählung
2001 haben allerdings im Falle der deutschen Minderheit eine stei-
gende Tendenz gezeigt. Im Vergleich zur Volkzählung 1990 stieg
die Anzahl derer, die als Nationalität Deutsch angegeben haben,
von ca. 36 000 auf 63 000, und fast 90 000 Personen haben eine
starke Bindung zur Kultur der deutschen Minderheit angegeben.
Im Jahre 2011 ist am auffälligsten die Verdoppelung der Angaben
bezüglich der deutschen Nationalität gewesen: Der positive Trend
seit der politischen Wende wurde nahtlos fortgesetzt und nach
dem schon im Jahre 2001 registrierten kraftvollen Plus wuchs die
Anzahl derjenigen ungarischen Staatsbürger die als Nationalität
Deutsch angegeben haben von 63 000 im Jahre 2011 auf beacht-
liche 132 000 Personen. Diese Zahlen widerspiegeln allerdings
sehr unterschiedliche Identitätsmuster, viele sind zwar ihrer
deutschen Abstammung bewusst, identifizieren sich aber eher
schon mit Ungarn, bei einigen wird die deutsche Abstammung
sogar mit einem übersteigertem ungarischen Nationalismus über-
lappt; für die meisten gilt die berühmte „doppelte Identität” und
es gibt das Rückgrat, also Deutsche mit einer singulären deut-
schen Identität.
Die heutige Lage der deutschen Minderheit in Ungarn spiegelt
das Ergebnis von langwierigen sprachlichen, kultur- und minder-
heitenpolitischen bzw. gesellschaftlichen Veränderungen wider.
In diesem einleitenden Teil möchte ich die wichtigsten Faktoren
anführen, die diese heutige Lage verursachten bzw. mitbestimm-
ten. Im 19. Jahrhundert begann der sprachliche und iden-
titätsbezogene Assimilationsprozess der Deutschen in Ungarn,
der im Prinzip bis zum heutigen Tage nicht aufzuhalten war.
Hierfür wa ren Gründe wie höhere Schulausbildungschancen,
soziale Auf stiegschancen, geographische und soziale Mobilität
verantwortlich. Dieser Prozess ist allerdings unterschiedlich ver-
laufen in den drei ungarndeutschen Siedlungsgebieten
(Westungarn, Unga ri sches Mittelgebirge, Südost-Transdanubien),
sowohl in der Quan tität als auch in der Qualität. Das Vordringen
des Ungarischen wurde durch die Tatsache erleichtert, dass die
Rolle der Hoch sprache bei den Ungarndeutschen das Ungarische
übernommen hat. Es bestand nämlich beim Aufeinandertreffen
beider Kom munikationsmittel ein asymmetrisches Verhältnis: das
Ungarische war ein auf allen Kommunikationsebenen ausgebau-
tes System, die deutschen Dialekte der Ungarndeutschen hinge-
gen waren beschränkt auf den mündlichen Bereich und auf die all-
täglichen Kommunikationssituationen. Im Falle von Westungarn
hatten wir natürlich eine etwas abweichende Situation, da dieses
Gebiet verbunden war mit dem geschlossenen deutschen
Sprachraum, eben daher ist es dazu gekommen, dass die regiona-
le Verkehrssprache einen relativ wichtigen Bestandteil der sprach-
lichen Kompetenz dargestellt hatte.
Eine wichtige Zäsur bedeutet beim Wandel der allgemeinen,
aber auch sprachlichen und schulischen Situation der deutschen
Minderheit in Ungarn das Ende des 2. Weltkrieges, bzw. die oben
schon angeführte Vertreibung von etwa 200 000 Deutschen an -
schließend. Im folgenden halben Jahrhundert können wir zwei
Entwicklungsphasen auseinanderhalten: Erstens die sog. „schwe-
ren Jahrzehnte”, die 50er, 60er und 70er Jahre, zweitens etwa
seit Mitte der 80er Jahre die neue Phase einer eher positiven. In
der ersten Phase können wir als Folge von den bekannten histori-
schen, politischen und wirtschaftlichen Benachteiligungen sowohl
auf der Ebene der Einzelpersonen, als auch auf der Ebene der
Gemeinschaft weitgehende Veränderungen in der mikro- und
makrosozialen Struktur der Ungarndeutschen festhalten. Die
Mehr heitsnation hat eine negative Einstellung zu einer jeden
Form der deutschen Sprache und Identität entwickelt, ein immer
größerer Teil der Angehörigen der deutschen Minderheit findet es
nicht attraktiv, sich zu der Minderheit zu bekennen. Der soziale
Aufstieg und überhaupt jede Art von Selbstverwirklichung ist mit
dem Ungarischen verbunden, deswegen nimmt das Tempo des
sprachlichen Wechsels rapide zu. Die deutschen Dialekte verlie-
ren schnell an Bedeutung, die Erosion derselben geht immer
schneller vor sich. Im schulischen Bereich werden diese Prozesse
dadurch beschleunigt, dass in den ersten Jahren dieser Phase
Deutsch aus den Schulen und Kindergärten verbannt wurde. In
den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts werden dann zwar
in einer handvoll Grundschulen sog. Nationalitätenstunden ange-
boten, aber häufig zusätzlich zum allgemeinen Unterricht, so dass
dadurch eine zusätzliche Belastung der Kinder „gesichert” wurde.
De facto war dies ohnehin häufig ein Deutsch als Fremdsprachen-
Unterricht.
Nach dieser Phase des immens schnellen Rückgangs der
deutschen Dialekte – und des Deutschen überhaupt – folgt die
zweite Phase, die stichwortmäßig folgendermaßen zu charakteri-
sieren ist: Seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und im
gesamten letzten Jahrzehnt gibt es eine positive Entwicklung bei
dem Deutsch unterricht im allgemeinen und bei dem Unterricht
der deutschen Minderheit im Besonderen. Weitere Faktoren sind
die immer intensiver gewordenen Kontakte zum deutschen
Sprachraum durch Schüleraustauschprogramme, Partnerschafts -
verträge zwischen Gemeinden und Städten in Ungarn und in
Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sehr oft auf Grund
de r Zusammenarbeit von Heimatvertriebenen und Heimat ver -
bliebenen Ungarndeutschen gestaltet werden, oder der Einsatz
von Lektoren in Institutionen, in denen auch Angehörige der
deutschen Minderheit Deutsch oder Germanistik lernen bzw. stu-
dieren. Ein langsamer und nicht eindeutig erfolgsreicher Prozess
Richtung bilingualer Schulen beginnt, auch auf der Mittel -
schulebene. Sogar im Kindergartenbereich gibt es erste Schritte in
Richtung zweisprachige Erziehung. Nicht zuletzt hat die nach der
Wendezeit und nach der politischen, wirtschaftlichen Öffnung des
Landes aufgewertete Stellung der deutschen Sprache positive
Signale und Impulse für die Ungarndeutschen mit sich gebracht.
Der Marktwert des Deutschen in Ungarn ist generell hoch, was
von den Angehörigen der deutschen Minderheit erkannt und aus-
genutzt wird, sogar in der europäischen Perspektive ist die deut-
sche Sprache aus der Warte von Ungarn mit vielen Möglichkeiten
verbunden. Seit der Weltwirtschaftskrise ab 2008 ist diese
Tendenz noch stärker zu spüren.
Eine sehr interessante Entwicklung ist bei der deutschen
Standardsprache zu beobachten. In der zweiten Phase der
Entwicklung gewinnt dieselbe rasch an Bedeutung, so dass sie als
Prestigesprache gilt in allen Schichten der deutschen Minderheit.
Interessanterweise werden auch in den Schichten, die deutsche
Dialektkenntnisse noch aufweisen können, die Kommuni ka -
(Fortsetzung auf Seite 4)
3