Sonntagsblatt 4/2023 | Page 23

Gesellschaft im Gespräch

NIEDERSCHLAGUNG DES PRAGER FRÜHLINGS VOR 55 JAHREN : „ MAN KONNTE NUR WENIGEN VERTRAUEN “

Ein Beitrag von Robin Sluk . Erstmalig erschienen im „ Landesecho ”, der Zeitschrift der Deutschen in der Tschechischen Republik ( Nr . 4 / 2023 ). Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion .
Eduard Sluk gehörte zur deutschen Minderheit in der kommunistischen Tschechoslowakei . Seinen Eltern gelang es , der Vertreibung nach 1945 zu entgehen . 1968 wanderte die Familie aus – genau in der Nacht des sowjetischen Einmarsches am 20 . August 1968 . Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn .
LE : Fangen wir Deine Geschichte am besten ganz am Anfang an . Du bist am 20 . April 1947 als Sohn deutscher Eltern in Reichenberg geboren . Wie haben sich Deine Eltern kennengelernt ?
Mein Vater , Eduard Adolf Sluk kam im Frühjahr 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft in Flensburg nach Reichenberg zurück . Die gut 600 Kilometer nach Reichenberg bewältigte er zu Fuß . Im Mai lernte er dort meine Mutter kennen . Zwischen den beiden befand sich der Stacheldrahtzaun des Sammellagers auf der Husova in Reichenberg . Dort warteten zahlreiche Deutsche auf ihre Abschiebung .
LE : Wie haben die beiden es geschafft , der Abschiebung zu entgehen ?
Mein Großvater Eduard Stefan Sluk hatte ein Bauunternehmen in Reichenberg und war Tscheche . Seine Ehefrau Richarda , geborene Ginzel , war eine Deutsche , weshalb mein Vater einen deutschen Pass hatte . Er hätte eigentlich auch abgeschoben werden müssen , aber mein Großvater bescheinigte ihm , dass seine Arbeitskraft in seinem Bauunternehmen benötigt wurde . Meinem Großvater gelang es schließlich auch , meine Mutter zusammen mit ihrer Mutter freizubekommen . Er war ein großartiger Organisator . Er wusste , an wen man sich wenden konnte und wen man schmieren musste . Einer schnellen Hochzeit meiner Eltern stand dann nur noch deren unterschiedliche Konfession im Wege . Der Übertritt meines Vaters aus der katholischen in die evangelische Kirche kostete zwei Gänse das Leben ; die hat der Pfarrer für den „ Verwaltungsakt “ bekommen .
LE : Wie war eure Situation in der Tschechoslowakei als Angehörige der deutschen Minderheit ?
Meine Kindheit war von meiner Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit stark beeinflusst . Meine Eltern bestanden darauf , dass bei uns zuhause ausschließlich deutsch gesprochen wurde . Das führte zwangsläufig zur Zweisprachigkeit , von der ich bis heute profitiere . In der Schule war ich ein Außenseiter und als in der dritten Klasse eine Lehrerin vor der Klasse bekannt gab , mit wem ich am gleichen Tag Geburtstag habe , war mein Spitzname „ Hitler “ schnell gefunden . Ich hatte nur sehr wenige Freunde in der Grundschule . Dies änderte sich später
SoNNTAGSBLATT durch meine Hobbys Flugmodellbau und Motorcross .
LE : Welchen Eindruck hat der kommunistische Staat bei Dir hinterlassen ? Hast Du Dir besondere Gedanken um die politische Situation gemacht ?
Die Ära des Kommunismus war geprägt durch die Angst , etwas Falsches zu sagen oder zu machen . Man konnte nur ganz wenigen Menschen vertrauen . Viele politische Witze haben in dieser Zeit die Runde gemacht , aber auch da musste man aufpassen , wem man einen Witz erzählt oder noch schlimmer , wer einem einen Witz erzählt , denn es gab auch genügend Provokateure . Die Strafen waren teilweise drakonisch - vom Verlust des Arbeitsplatzes bis zur Gefängnisstrafe . Die Teilnahme an Kundgebungen war obligatorisch und wurde insgeheim kontrolliert und registriert . Ich kann mich noch an die Kundgebungen auf dem Rathausplatz in Reichenberg im März 1953 erinnern , als wir anlässlich des Todes von Stalin und Gottwald bei Schneeregen und bitterer Kälte stundenlang die Trauerreden der Parteifunktionäre anhören durften . Ich war damals in der ersten Klasse . Wenn sich jemand von den Schülern nicht gebührlich benahm , bekam er sofort mindestens eine Kopfnuss und später einen Eintrag in die Kaderakte .
LE : Welche Kontakte hattest Du mit Menschen , die sich dem Regime entgegensetzten ?
Gut erinnern kann ich mich an einen Lehrer an der Berufsschule , den Herrn Řiha aus Grottau ( Hradek nad Nisou ). Er hat uns in Tschechisch und Russisch unterrichtet und zusätzlich in seiner Freizeit noch einen Französischkurs gegeben . Er hat uns immer gesagt : „ So viele Sprachen du sprichst , so oft bist du ein Mensch .“ Herr Řiha , damals Mitte fünfzig , war ein großer Humanist , was in seinem Unterricht immer durchsickerte . Im Jahre 1963 brachte er eine Übersetzung von Solschenyzins „ Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch “ mit , die auf losen Blättern mit der Schreibmaschine geschrieben war . Die ging dann in der Klasse rum und wir haben auch im Unterricht darüber diskutiert . Eine Mitschülerin hat ihrem Vater davon erzählt , der ein hundertfünfzigprozentiger Kommunist war , der hat dann den Herrn Řiha angezeigt . Er wurde sofort aus dem Schuldienst entlassen und musste ab da als Hilfsarbeiter in einer Fabrik seine Brötchen verdienen . Bald darauf starb er .
Auch habe ich Herrn Václavik noch gut in Erinnerung . Er war von 1964-68 auf der Ingenieursschule mein Lehrer für Elektrotechnik . Immer wieder mal hat er uns ironisch von seiner „ Umerziehung “ in den Uranbergwerken in Joachimstal ( Jachýmov ) im Erzgebirge erzählt , wo er über fünf Jahre für ein paar regimekritische Äußerungen inhaftiert war . Nach seiner Rehabilitierung durfte er zwar als Lehrer arbeiten , doch starb er schon 1969 an den Folgen der starken radioaktiven Strahlung , der er unter Tage ausgesetzt war .
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