Sonntagsblatt 4/2023 | Page 22

ihre Küken zu verteidigen . Ich meldete mich und sagte : „ Ezt már én is tapasztaltam .” Der Schulrat sah den Lehrer an und der Lehrer den Schulrat . Ich sagte : „ Das habe ich auch schon erlebt ”.
Noch an etwas erinnere ich mich u . a .: Wir hatten einen Friseur namens Tribschansky . Er hat mir meine Warzen an der Hand mit einer Tinktur entfernt . Er sagte zu mir energisch , dass ich daran nicht schlecken dürfte , sonst würde ich sterben . Natürlich habe ich geschleckt . Es war salzig . Und ich lebe heute noch .
Auch hat mich damals Folgendes auch noch beschäftigt : Es drehte sich um das Lied : „ Es geht alles vorüber , es geht alles vorbei , nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai .” Ich dachte , das kann doch so nicht heißen , denn nach jedem Dezember kommt doch immer zuerst der Januar !
Mein Vater hat mir seinerzeit viel vom Wolf erzählt . Einmal habe ich sogar vom Wolf geträumt . Er kam auf mich zu , ich stand hinter einer Hecke . Ich wollte mich verstecken und duckte mich hinter die Hecke , damit er mich nicht sieht . Der schlaue Wolf hat mich aber schon erspäht und sagte : „ Már láttalak !” Also : „ Ich hab ’ dich schon gesehen !” Und dann erwachte ich zum Glück . Mein Vater sagte zu mir , als ich ihm von meinem Traum erzählte : „ Du träumst ja ungarisch !”
Eines Tages bin ich in eine zugefrorene Furche mit beiden Beinen eingesunken . Meine schönen neuen Schuhe waren von dem Schlamm fast eingemauert . O je , wenn ich jetzt heimkomme , gibt ’ s Schläge . Zum Glück war nur meine Mutter zu Hause . Ich stellte mich reumütig vor meine Mutter hin und sagte : „ Verj meg , hogy túl legyek rajta ”. Also : „ Schlag mich , dass ich es hinter mir hab ’.” Meine Mutter hat mich natürlich nicht geschlagen .
In Nyíregyháza gibt es ein Erholungsgebiet , das „ Sóstó ” genannt wird . Wir besuchten dieses Gebiet öfters . „ Sóstó ” heißt direkt übersetzt : Salzteich . Nach einem Aufenthalt in Sóstó stiegen wir in die Straßenbahn ein , um zurück in die Stadt zu fahren . In der Straßenbahn kam ein Lehrerkollege auf meinen Vater zu , umarmte ihn und gab ihm eine Zeitung in die Hand und gratulierte ihm . In der Zeitung stand , dass mein Vater zum „ Rendes Tanár ” ernannt worden ist . „ Tanár ” bedeutet Gymnasial- Schullehrer , auch Hochschullehrer und sogar Professor . „ Rendes Tanár ” heißt also gewissermaßen „ ordentlicher Gymnasial-Schullehrer .” Die Freude war bei meinen Eltern natürlich echt groß .
22
Aber - und das muss hier besonders hervorgehoben und besonders erklärt werden : Das Heimweh nach Wudersch war permanent groß und schmerzlich . Wie groß das Heimweh meines Vaters war , soll folgende Episode erklären : Mein Vater war auch ein begeisterter Fußballspieler . Er spielte in der 1 . Mannschaft von SC Budaörs ( Wudersch ). Obgleich wohnhaft in Nyíregyháza , spielte er trotzdem einige Male in Wudersch ( ca . 180 km von Nyíregyháza entfernt ). Als er wieder zu seiner Familie nach Nyíregyháza zurückkam , zeigte er uns seine absichtlich nicht geputzten Fußballschuhe . Er deutete auf die Sohle seiner Fußballschuhe und flüsterte fast andächtig : „ A Wuderscher Eadn ” ( eine Wuderscher Erde ). So groß war seine Heimatortsliebe zu Wudersch .
1941 Nach Beendigung der 1 . Grundschule in Nyíregyháza am 12 . Juni 1941 mit nur ungarischem Unterricht kehrten wir nach Wudersch zurück . Ich erinnere mich noch genau daran , wie mir mein Vater einen deutschen Text zum Lesen gab . Als ich mit dem Lesen fertig war , sagte mein Vater überrascht : „ Du liest ja wie ein Ungar !” Meine Mutter erinnerte daran : „ Er hat doch bisher nur ungarischen Unterricht gehabt ”. Nun musste der „ kleine Ungar ” deutsch lernen .
Die ungarische Hauptstadt kann und möchte ich nur in Kurzform beschreiben : Die Stadt liegt an der breiten Donau , am „ Schicksalsfluss ” der Ungarndeutschen - der Donauschwaben - mit bombastischen Donaubrücken , mit vielen Heilquellen , Heilbädern , mit vielen Kirchen aus verschiedenen Epochen und mit mannigfachen Kultureinrichtungen . Die Hauptattraktion in Budapest ist das Parlament .
1943 Dieses Jahr stand auch im Zeichen meiner heiligen Kommunion . In Budapest hatte ich die gute Gelegenheit , das Akkordeon-Spielen zu erlernen . Aus dem schönen Land Thüringen bekam ich eine Ziehharmonika , ein kleines Akkordeon . An der Breitseite prangte eine mit besonders ziselierten Buchstaben verfasste Aufschrift : „ Hess – Klingenthal ”. Ich war sehr stolz darauf . Ab und zu besuchte ich unsere Nachbarn . Da war ein sehr schönes Mädchen , die einen gutaussehenden Freund hatte , der öfters zu ihr von Budapest nach Pußtawam / Pusztavám angereist kam . Sie küssten sich leidenschaftlich und oft und natürlich auf den Mund . Als Neunjähriger konnte ich das noch nicht so richtig begreifen und sagte zu dem Freund des Mädchens : „ Wenn du die Ilonka so küsst , dann bekommst du ja einen ganz nassen Mund ”. Er darauf : „ Das ist ja gerade das Schöne ”.
Anfang September 1943 lief in Budapest in einem „ Revolverkino ” der bombastisch ausgestattete deutsche Prestigefilm „ Münchhausen ”. Es war heiß , das Kino proppenvoll und daher stickige Luft . Beim Filmrollenwechsel kam ein Mann mit einer großen Spritze daher und versprühte eine Mischung aus Wasser und „ Kölnisch-Wasser ” links und rechts in die Film-Zuschauerreihen . Eine kleine Luftverbesserung kam zustande . Der Film war ein Ereignis . Noch heute deklamieren wir die vom Drehbuchautoren Erich Kästner kunstvoll formulierten geistreichen Dialoge .
Dazwischen fällt mir eine kleine Episode ein - mit meinem kleinen Bruder Franz : Wir nannten ihn „ Bubi ”; er war damals vier Jahre alt . Wir waren wieder auf dem Heldenplatz – Hősök tere – und von dort strolchten wir im Stadtwäldchen herum . Da wuchsen auch wilde „ Johannisbrotbäume ” und die krumme Frucht dieser Bäume sah fast wie eine Schlange aus . Ich ergriff eines dieser krummen Dinger und fuchtelte wild damit herum , ging damit auf meinen Bruder zu und zischte in der Budaörser Mundart : „ A Schlaunga !” Panikartig rannte mein zutiefst erschrockenes und verängstigtes Brüderlein davon .
Fortsetzung folgt
SoNNTAGSBLATT