Sonntagsblatt 4/2023 | Page 24

LE : Wie hast Du den Prager Frühling erlebt ? Und wie ist es in diesem Rahmen zu eurer Ausreise aus der ČSSR gekommen ?
Den Prager Frühling habe ich nicht sehr bewusst erlebt und zwar aus mehreren Gründen . Im Herbst 1967 , als die Bewegung anfing , habe ich dem Braten noch nicht getraut . Im Januar 68 ließen sich meine Eltern nach 21 Jahren Ehe scheiden . Für meine Mutter bedeutete das eine komplette Entwurzelung , so dass sie das Angebot ihres Vaters , mit uns drei Kindern in die BRD rüberzumachen , sofort annahm . Die Vorbereitungen auf die bevorstehende Auswanderung , das nahende Fachabitur und die parallel zu absolvierende Gesellenprüfung nahmen mich voll und ganz in Beschlag , so dass für die Politik drumherum nicht viel Aufmerksamkeit blieb .
LE : Es war Dein Großvater , der euch zur schnelleren Ausreise bewegt hat , so dass diese genau auf den Tag der russischen Invasion fiel ?
Ja , ab Anfang August trafen fast täglich Briefe und Telegramme meines Opas bei uns ein mit der Aufforderung : „ Beschleunigt die Ausreise “. Meine Mutter unternahm alles Mögliche - inklusive finanzieller Bestechung der Mitarbeiter der tschechischen Spedition - um unseren Reisetermin vorzuverlegen und zwar um fünf Tage , auf den 20 . August .
Mein Opa Walter lebte seit 1956 in der BRD , wohin er nach elf Jahren Haft in der ČSR mit der Maßgabe „ nie mehr tschechischen Boden zu betreten “ vorzeitig entlassen wurde . Sein Verbrechen war , Major der deutschen Wehrmacht gewesen zu sein , wofür er von einem Volksgericht 1945 in einem achtminütigen Prozess zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde . Am Rande sei bemerkt , dass mein Opa nicht in der NSDAP war , sondern nur ein Bürger , der seine Wehrpflicht erfüllte . Ursprünglich stammten er und seine Frau aus dem Kuhländchen in Nordmähren . Dort wurde auch meine Mutter 1922 geboren .
LE : Wie lief eure Ausreise ab ?
Am 20 . August fuhr um 7.00 Uhr ein großer Möbelwagen mit Anhänger vor unserem Haus vor . Die beiden Fahrer begannen mit meiner Hilfe und unter der Aufsicht zweier Zollbeamter – auch die waren bestochen und tranken in unserer Küche Becherovka – mit der Verladung unserer Habe .
Um 17.00 Uhr haben wir Reichenberg in Richtung Pilsen ( Plzeň ) verlassen , wo wir um 23.00 Uhr in unserem Hotel ankamen . Vor dem Schlafengehen wollte ich noch ein wenig Radio hören . Doch statt Musik hörte ich , dass sowjetische Truppen gemeinsam mit Soldaten der „ Brudervölker “ einmarschiert seien . Wir vier verbrachten den Rest der Nacht mit anderen Hotelgästen in der Lobby vor den Radiolautsprechern . Gegen 5.30 Uhr kam die Aufforderung an die Bevölkerung , keinen Widerstand zu leisten und wie gewohnt zur Arbeit zu gehen . Das beherzigten auch unsere beiden Fahrer ; die wollten nämlich vor diesem Aufruf „ nirgend wohin fahren “. Um 6.00 Uhr verließen wir Pilsen Richtung Grenze , an der wir gegen 8.00 Uhr ankamen . Ein dienstbeflissener Grenzbeamter erklärte uns , dass die Grenze geschlossen und unsere Reise damit zu Ende sei . Das war für meine Mutter und meine Schwester entschieden zu viel . Beide erlitten einen lautstarken Nervenzusammenbruch , so dass weitere Grenzer heraneilten . Der älteste von ihnen , er hieß Skála , fragte nach , ob unsere Papiere und die
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Plomben an den Fahrzeugen in Ordnung seien . Nachdem das überprüft war , ertönte Skalás Befehl : „ Schranke öffnen !“ Zwei Minuten später waren wir in Bayern , wo eine Horde von Journalisten über uns herfiel . 15 Minuten später blockierte ein Panzer auf der tschechischen Seite die Schranke .
LE : Wo seid ihr zuerst untergekommen ?
Im Badischen begannen wir nach der stürmischen Begrüßung durch die Großeltern mit der Entladung der LKWs . Nach kurzer Nacht ging es dann wieder zur Registrierung nach Nürnberg in das zentrale Aufnahmelager für Spätaussiedler . Nach drei Tagen Anhörung und Bürokratie ging es mit der Bahn nach Rastatt in das Landesaufnahmelager . Die Bedingungen da waren nicht sehr gut , wir hatten 16 Quadratmeter für uns vier . Zum Glück hat uns unser Opa in Wiesloch eine Wohnung zur Untermiete besorgt , so dass wir das Lager sehr schnell verlassen konnten .
LE : Wie empfandest Du die Integration in die Bundesrepublik ? Gab es große kulturelle Unterschiede ?
Natürlich gab es einige kulturelle Unterschiede zwischen den beiden Ländern , aber dank unserer Zweisprachigkeit war die Sprache schon einmal kein Problem . Wir wollten auch schnell wieder festen Boden unter die Füße bekommen und haben uns entsprechend schnell an unsere neue Heimat angepasst . Das Heimweh nach der alten wich innerhalb von zwei bis drei Jahren fast völlig .
LE : Wie blickst Du heute auf die Geschichte der deutschen Minderheit in Tschechien ?
Über die deutsche Minderheit in Tschechien weiß ich so gut wie nichts . Unsere alten Verwandten und Freunde sind alle weggestorben , zuletzt vor einem halben Jahr meine 92-jährige Tante , die Schwester meines Vaters . Ich habe noch einige gute Kontakte in die Tschechische Republik , das sind aber ausschließlich Tschechen .
LE : Hast Du Deine Heimat vermisst ? Was hast Du Dir aus deinem Leben in der Tschechoslowakei bis heute bewahrt ?
Anfangs nach unserer Auswanderung habe ich schon das eine oder andere vermisst . Das hat sich aber relativ schnell gegeben - frei nach dem Motto : Vorwärts immer , rückwärts nimmer ! Aus meinem Leben in der Tschechoslowakei habe ich gelernt , meinen Optimismus auch in schwierigen Situationen zu behalten . Ich habe die Kunst zu improvisieren und den Humor des braven Soldaten Schwejk mitgenommen .
Eduard Sluk , geboren am 20 . April 1947 in Reichenberg ( Liberec ), arbeitet heute als Antiquitätenhändler und Restaurator in Zeutern bei Bruchsal im Landkreis Karlsruhe . Seine Frau Cornelia betreibt das Restaurant Weinschlauch in Zeutern . Sluks lebenslanges Interesse an Oldtimern ( insbesondere der Marke Tatra ) führt ihn auch heute noch häufig in die Tschechische Republik .
Quelle : https :// landesecho . cz / gesellschaft / niederschlagung-des-prager-fruehlings-vor-55-jahrenman-konnte-nur-wenigen-vertrauen / 0016509 /
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