Sonntagsblatt 4/2018 | Page 6

weggründe vielfältig: „Der primäre Faktor ist natürlich das höhere Gehalt, aber auch die kulturelle Bindung zum deutschsprachigen Ausland, wenn man sich schon selber dieser Kultur zugehörig fühlt. Es ist auch erwähnenswert, dass man mit dem Zug (Railjet) aus Budapest genauso schnell nach Wien wie nach Fünfkirchen fahren kann. Die geographische Nähe ist im Fall von Österreich also ein Vorteil. Ich bin der Auffassung, dass man die Chance, Arbeit im Ausland nachzugehen, wahrnehmen muss, solange man noch mobil ist. Später kann man zu Hause sein. Unter 30 Jahren geht das auch relativ einfach.“ Auch hinsichtlich der gesammelten Erfahrungen zieht Sebastian eine positive Bilanz: „Drüben lebt es sich tatsächlich einfacher. Durch den Lohnniveauunterschied sind die Leute wesentlich entspannter und ihre Alltagsprobleme sind einfacher zu lösen. Wenn man das Glück hat, eine entsprechende Qualifikation und einen deutschen Vor- und Nachnamen zu besitzen, fällt man im Gastland auch nicht besonders auf. Man wird schneller auf- genommen. Das Gefühl, zu Hause zu sein kann jedoch nichts ersetzen. Als gebürtiger Budapester freue ich mich immer, in meiner Heimatstadt zu sein, wenn auch ich nicht mit jeder ge- sellschaftlichen Tendenz der letzten Jahre zufrieden bin.“ Katha- rinas Integration war auch erfolgreich: Sie berichtet davon, dass sie binnen eines Monats ein Vorstellungsgespräch gehabt hätte und bereits zum Beginn des nächsten Erziehungsjahres dort ein- gestiegen sei: „Hier ist es ganz normal, Ausländer/in sein. Es ist nichts Besonderes. Auch die Vorschule, wo ich arbeite, ist sehr bunt. Wir haben indische, bulgarische, russische, vietnamesi- sche, polnische Kinder und auch Kinder aus gemischten Ehen wie deutsch-französisch, deutsch-amerikanisch, deutsch-öster- reichisch. Also meine Erfahrungen als „Ausländerin“ sind sehr gut. Ich fühle mich nicht anders wie in Ungarn. Vielleicht wenn, dann noch besser. Die Kollegen sind gegenüber jüngeren Fach- kräften auch viel offener und unterstützen sie viel mehr.“ Für Pe- ter gab es, da er zuvor öfters in Deutschland war, wenig Über- raschendes: Die größte Umstellung für ihn war, sich selbst zu versorgen. Kerstin weist auf die Mentalitätsunterschiede, die sich auch im Berufsleben niederschlagen würden, hin: „Fachlich sehe ich nicht zu viele Unterschiede, obwohl unsere Ausbildung nicht anerkannt wird. Unterschiede gibt es, wie man mit den Dingen umgeht. Wir ticken einfach anders, weil wir in anderen Verhält- nissen aufgewachsen sind. Wir sind viel erfinderischer.“ Bei Su- sanne überwogen am Anfang die Zweifel: „Ich habe am Anfang nicht in meinem Beruf arbeiten wollen. Einerseits wegen meiner Entscheidung für einen Neuanfang, andererseits weil ich dachte, dass die muttersprachliche Konkurrenz zu hoch war. Ich habe die ersten zwei Jahre allerlei Jobs gemacht und bin letztendlich doch beim Deutschunterricht gelandet und mache das gern.“ Mittlerweile hat sie sich gut integriert: “Ich lebe zwar in Deutsch- land, aber Berlin ist noch mal eine andere Welt. Mit Deutschen habe ich hauptsächlich beruflich, amtlich u. Ä. zu tun. Ich habe Freunde und Bekannte aus vielen verschiedenen Ländern und auch einige aus Deutschland.“ Zweifelsohne ist es eine interessante Frage, inwiefern das Le- ben im deutschsprachigen Ausland die eigene (ungarndeutsche) Identität beeinflusst. Katharina hat hierzu eine ganz klare Mei- nung: „Meine Identität ist meine Identität. Die kann man nicht ver- ändern oder beeinflussen.“ Susanne hat diese Frage eingehend reflektiert: „Das Leben in Deutschland hat die Frage meiner na- tionalen Identität in den Vordergrund gerückt. Ich habe viel da- rüber nachgedacht, was es bedeutet, Ausländerin, Europäerin, Ungarin und teils deutscher Herkunft zu sein. Ich habe vieles in der deutschen Kultur, Haltung und den deutschen Wertvor- stellungen entdeckt, mit denen ich mich identifizieren - und viel- leicht mehr identifizieren - kann als mit den ungarischen. Dazu gehören unter anderen die Rücksichtsnahme und Wahrung der Privatsphäre - die ich jedoch manchmal auch übertrieben finde -, die Ehrlichkeit - nicht um den heißen Brei herumreden, wie das in Ungarn oft der Fall ist -, die Diskussionskultur, die in Ungarn typischerweise kompetitiv und weniger konstruktiv abläuft, eine bewusste und „erwachsene” bürgerliche Haltung, die auf der Überzeugung basiert, etwas auch selbst bewirken zu können, was in Ungarn so noch nicht existiert. Andererseits gibt es auch Bereiche, wo ich im Vergleich dazu, was ich oft in Deutschland, genauer gesagt in Berlin, erlebe, die „ungarische Art” bevorzuge. Diese ungarisch-deutsche Gegenüberstellung kommt aus mei- 6 nem individuellen Kontext. Ich möchte damit nicht sagen, dass man eine „deutsche bzw. ungarische Art” so abgrenzen oder definieren kann.“ Peter, der aus einer „rein“ ungarndeutschen Ehe stammt, meint, dass das Leben in Bayern seine (ungarn) deutsche Identität gestärkt hätte: „Es ist nicht einfach unsere Situation den „richtigen“ Deutschen zu erklären. Ich glaube, sie kapieren das erstmal gar nicht. Man wird doch eher als Ungar angesehen als Deutscher. Wobei es auch Gegenbeispiele gibt, wo Leute relativ schnell verstanden haben, wie es ist.“ Sebas- tian hat auch ähnliche Erfahrungen gesammelt: „Es hat mich in meiner deutschen Identität gestärkt, wenn es auch gleichzeitig die Unterschiede offengelegt hat, die es zwischen bundes- und auslandsdeutschen Gemeinschaften gibt. Es sind verschiede- ne Gemeinschaften mit unterschiedlicher Sozialdynamik. Mein Deutschtum hat nichts mit der Bundesrepublik oder sonst wel- chen Staaten zu tun, sondern mit meiner Sprache, Alltagskultur und dem kulturellen Erbe. Ähnlich hat das auch der rumänische Präsident Klaus Johannis, selber Siebenbürger Sachse, formu- liert. Die deutsche Kultur bestimmt zu einem entscheidenden Teil meine Denkweise und meinen Blick auf die Welt. Ähnlich zu vie- len ungarndeutschen Bekannten von mir bin ich ein Kulturdeut- scher, geopolitisch gesehen ungarischer Patriot und überzeugter Europäer.“ Die Zeit verändert einen, aber auch das Verhältnis zum eigenen Heimatland. Kerstin betrachtet Ungarn weiterhin als ihr Heimat- land, wo ihre Wurzeln lägen, ihre Freunde, Familie und Vergan- genheit. Aber nun finde ihr Leben nicht mehr dort statt, was nach eigenem Empfinden auch ihre Mentalität verändert hätte. Peter empfindet mehr Distanz zu Ungarn, obwohl er immer noch ger- ne seine Heimatstadt besucht: „Aber Ungarn an sich lässt mich kalt. Mit Landnahme, Stefan usw. kann ich wenig anfangen. Ich habe bereits die Erfahrung gemacht, dass ich mich in bestimm- ten Regionen in Ungarn fremder gefühlt habe als irgendwo in Deutschland oder Österreich, wo ich noch nie zuvor war.“ Ka- tharina spürt eine enge emotionale Bindung zu Ungarn, bei ihr spielt aber auch die Frage eine Rolle, wie sich ihr Freund bei einer Übersiedlung integrieren könnte: „Mein Freund, den ich so lieb habe, stammt von hier, er redet nur Deutsch/Bayrisch und Englisch, für ihn wäre es in Ungarn recht schwierig. Auch die Lebensqualität ist anders. Für mich ist es einfacher mich an ein Leben in Bayern zu gewöhnen als es für ihn in Ungarn wäre. Als Deutscher sich an einen ungarndeutschen Lebensstil zu ge- wöhnen ist auch nicht immer so einfach. Es gibt Beispiele dafür, dass es gut klappen kann, aber auf diesen Moment muss ich noch warten.“ Bei Susanne und Sebastian spielen bei der Fra- ge nach dem Verhältnis zu Ungarn auch aktuelle Entwicklungen eine Rolle. Susanne sagt, dass Ungarn ein anderes Land, sei es Deutschland, nie ersetzen könnte. „Allerdings lebe ich schon lange genug in Deutschland, um eine gewisse Distanz und ein gewisses Fremdgefühl zu Ungarn zu entwickeln. Damit sind Ge- fühle der Erleichterung und auch der Traurigkeit verbunden. Ich denke nicht daran, je wieder in Ungarn leben zu wollen. Das hat nicht nur politische Gründe, aber diese spielen dabei eine im- mer größere Rolle“, so die Deutschlehrerin. Sebastian beschreibt seine Gefühle zu Ungarn folgendermaßen: „Auch wenn Ungarn das langweiligste und intoleranteste Land wäre, bliebe es meine Heimat, und die Sonne würde jeden Morgen genauso aufgehen. Zum Glück ist es ein spannendes und zum Teil weiterhin offenes Land. Dies sollte allerdings nicht heißen, dass sich in Ungarn aus meiner Sicht alles positiv entwickeln würde. Mit dem Mig- rationsthema zum Beispiel sollte es irgendwann endlich einfach gut sein. Manchmal kommt es einem vor, als gäbe es hier keine anderen, wichtigeren Themen wie die Korruption oder die Dauer- krise im Gesundheitswesen.“ Hinsichtlich der Beurteilung der Lage der deutschen Nationalität in Ungarn zeigt sich ein gemischtes Bild. Am positivsten sieht die Lage Kerstin, die die wenigsten Verbindungen zum Ungarn- deutschtum besitzt: „Die deutsche Minderheit in Ungarn ist ein Teil von Ungarn und assimiliert, aber jeder kann und darf seine Identität behalten, was Zweisprachigkeit und Kultur betrifft. In meinem Komitat Branau kann man vom Kindergarten bis zum Abitur alles zweisprachig machen. Ungarndeutsche haben viele Vereine und Möglichkeiten ihre Identität frei zu pflegen.“ Auch Katharina gehört zu den Personen, die die Lage positiv beurtei- len: Sie spricht sogar davon, dass das Ungarndeutschtum „eine SoNNTAGSBLATT