Sonntagsblatt 4/2018 | Page 21

sie auch kaum nötig. Den friedlichen Alltag ruinierten 1946 die Schicksalsschläge, die das ganze Ungarndeutschtum trafen: 80% der Bevölkerung meines Heimatortes wurde nach Deutsch- land vertrieben. Auch unsere Familie blieb von all dem nicht ver- schont: 29 von den 34 Cousinen bzw. Cousins meiner Mutter und noch viele Verwandte mussten ihre Heimat verlassen. Auch meine Eltern saßen schon im Wagon, meine Mutter war aber gefährdet schwanger. Eine junge Ärztin sagte jedoch – großes Risiko eingehend –, dass unter solchen Umständen nicht ein- mal Tiere transportiert werden dürften. Letztendlich blieben sie. Bis sie aber zu Hause angekommen waren, zogen Fremde in ihr Haus. Es war Januar, und sie mussten im Stall wohnen. Mit uns, Kindern haben unsere Eltern lange nicht über die Vertreibung diskutiert, wir wussten aber natürlich, dass es sich um etwas ganz Schlimmes handelt. All dies erklärt meine Motivation, mich in diesem Bereich einzusetzen.” Über Studien und Hobby “Meine beiden älteren Geschwister studierten Wirtschaftswissen- schaften. Da auch ich Mathematik gernhatte, entschied auch ich mich für eine ökonomische Mittelschulbildung, und anschließend für ein Ökonomiestudium. Neben dem Lernen habe ich Fußball gespielt, und zwar in der Zentralen Sportschule, deren Gründer teilweise herausragende Sportlehrer aus Wudersch waren. Nach der Uni gerne hatte ich der 3. und 2. Nationalliga, sowie im Sport- klub des Budapester Verkehrsbetriebs BKV gespielt. Während- dessen habe ich an der Eötvös das Fach Mathe absolviert. Der- zeit kam ich mit dem Kleinfeldfußball in Kontakt. Durch unseren Verein namens Aramis wurde in Ungarn der Hallenfußball, sowie auch die Budapester Meisterschaft in dieser Disziplin etabliert. An mehr als 60 von den 100 Spielen der ungarischen Futsal-Aus- wahlmannschaft war ich der Verbandskapitän. Wir bereisten die Welt, von Rio de Janeiro bis nach Novi Uregonj, von Brasilien bis nach Sibirien. Aramis ist bis heute die einzige Mannschaft, die seit der Etablierung von Futsal durchgehend in der höchsten Klasse spielte und sogar eine eigene Sporthalle baute.” Über freiwilliges Engagement für die deutsche Nationalität “Es ist dem Zufall zu verdanken, dass ich in diese Szene hin- eingeraten bin. 1994 fragte mich meine Schwester, die durch ihren Mann, der aus einer Edecker deutschen Familie stammt, in diese Sache bereits involviert war, ob ich sie zu einer Bespre- chung in Wudersch bezüglich der Nationalitätenwahlen beglei- ten würde. Vorhin war ich eigentlich nur mit meiner Arbeit und mit Fußball beschäftigt. Dies bedeutete aber gleichzeitig auch, dass ich keinen Ärger mit den Dorfbewohnern hatte – darum, und wegen dem Namen ”Ritter” wurde ich dann schließlich zum Vorsitzenden der Wuderscher Deutschen Selbstverwaltung ge- wählt. Sehr engagiert machten wir uns mit dieser Körperschaft an die Arbeit, und nach einer gewissen Zeit stand ich dann vor der Wahl: entweder die deutsche Selbstverwaltung oder der Fußball. Schließlich fasste ich den Entschluss, Aramis zu behal- ten und den Verein finanziell auch weiterhin zu unterstützen, an den Trainings jedoch nicht mehr teilzunehmen. Mit der Zeit ha- ben wir ÉMNÖSZ, den Verband der Deutschen Selbstverwaltun- gen der Region Nord gegründet, ich wurde der Vorsitzende, und ab der zweiten Wahlperiode war ich auch Mitglied der Vollver- sammlung der Landesselbstverwaltung. Von den sieben Tagen der Woche habe ich sechs durchgearbeitet, indem ich mich an drei bis vier Tagen ganz gewiss mit den Angelegenheiten meiner Nationalität befasst habe. Mit ÉMNÖSZ gingen wir anhand einer gut überlegten Strategie vor, und es ist uns gelungen, sowohl vor Ort als auch in der Region schöne Ergebnisse zu erzielen: Die Jahrzehnte hindurch zerstörte Kultur der Ungarndeutschen erwachte allmählich, die Menschen begannen, sich für die Sa- che zu interessieren, wir starteten verschiedene Wettbewerbe für Kinder, gründeten Chöre, Tanzgruppen und Kapellen und vernetzten Ortschaften und Menschen miteinander. Eine meiner Herzensangelegenheiten war, den alten Friedhof von Wudersch SoNNTAGSBLATT zu retten: Wir haben etwa 1300 Grabsteine renoviert und da- durch verhindert, dass an jenem Ort ein Wohnhaus oder eine Tiefgarage erbaut wird.” Über die Familie “Ich muss über zwei Familien erzählen. Ich bin ein konservativ gesinnter Mensch und hätte deshalb nie gedacht, dass ich mich einmal scheiden lasse und eine zweite Ehe haben werde. Das Leben ist aber nun mal so. Meine erste Ehefrau hatte keine Bin- dung zum Ungarndeutschtum, und sie war auch nicht religiös. Man sagt zwar, dass die Liebe alles besiegt, aber die diesbezüg- lichen Uneinigkeiten brachten Probleme bei der Erziehung unse- rer Kinder mit sich. Ich muss auch gestehen, dass ich damals auch ganz viel Fußball spielte und 3-4 Monate im Jahr unterwegs war. Aus meiner ersten Ehe habe ich zwei erwachsene Töchter und ein Enkelkind. Der Wandel in meinem Privatleben erfolgte, als ich Bürgermeister von Wudersch werden wollte – nicht, weil ich irgendwelche politischen Ambitionen hatte, sondern einfach, weil ich im Interesse unserer Nationalität die Änderung unbedingt für nötig hielt –, es aber nicht geworden bin. Es kam eine schwe- re Phase in meinem Leben. Und wenn es einem ganz schlecht geht, kommt ganz unerwartet etwas Gutes: Zu dieser Zeit lernte ich Vera kennen. Sie stammt aus Wudersch und vertritt diesel- ben Werte. Wir haben eine neue Familie gegründet, innerhalb von fünf Jahren haben wir drei Kinder bekommen, mit denen wir nur deutsch sprechen. Mein Büro ist nur hundert Meter von mei- ner Wohnung entfernt, jahrelang haben wir jeden Tag zusammen gefrühstückt und zu Mittag gehalten, und ich war jeden Abend bei ihren Betten, als sie einschliefen. Diese Jahre waren einfach traumhaft. Ich war unheimlich stolz auf meine drei Kinder, als sie dieses Jahr im Wuderscher Passionsspiel mitgewirkt haben.” Über die Zeitspanne zwischen 2014 und 2018 als Parla- mentssprecher „Bei den Parlamentswahlen 2014 war es gar keine Frage, dass wir unseren damaligen LdU-Vorsitzenden, Otto Heinek in das Hohe Haus als Abgeordneten entsenden möchten. Als es sich aber allmählich herauskristallisierte, dass wir statt einen Abge- ordneten nur einen Sprecher haben werden, tauchte ein Problem auf: Wer Vorsitzender war, durfte nicht den Posten des Parla- mentssprechers bekleiden. Und da hat man mich gefragt. Nie- mand von uns wusste, welche Aufgaben mit dieser Rolle ver- bunden sind, dennoch fasste ich den Entschluss, den Schritt zu wagen und den Posten zu übernehmen. Ich fühlte mich kom- petent: Einerseits, weil ich mich lange Jahre sehr engagiert für die Angelegenheiten meiner Nationalität einsetzte, andererseits, weil ich aus den Plänkeleien in der Vergangenheit sehr viel ler- nen konnte. Ich musste zwar meine Existenz aufgeben, aber es war mir klar: Wenn wir jetzt nichts unternehmen, können wir ‚den (Fortsetzung auf Seite 22) Jahreshauptversammlung der Jakob Bleyer Gemeinschaft Wir erwarten die Mitglieder der JBG Auf der Jahreshauptversammlung unseres vereins. ort: Heimatmuseum Wudersch 2040 Budaörs, Budapesti út 47. Termin: 2. Februar 2019, 10 uhr Wir freuen uns bereits auf ihre Teilnahme! 21