Sonntagsblatt 4/2018 | Page 12

und kulturell in wenigen Jahrzehnten weitgehend, so dass Pilsen auch 1941 zu 85% deutsch(sprachig) war. 25 Jahre später, 1969 sprach man auf einer Ratssitzung davon, dass man „von Natio- nalität (…) von Nationalitätengefühl nicht mehr sprechen kann”, denn „im Falle unserer Gemeinde geht es um einen abgeschlos- senen Assimilierungsprozess”. Trotzdem zeigten ein Exekutiv- komiteesitzungsprotokoll aus dem Jahre 1979 sowie Daten der Volkszählungen und Schätzungen aus den Jahren 1976, 1983 und 1986, dass sich immer noch 60-62 % der Einwohner zum Deutschtum bekannt hätten. Eine andere Quelle, die Dorfchronik des Archäologen und ehemaligen deutschen Gemeinderates und später Bürgermeisters (2008-2010) Zoltán Batizi auf der Internet- seite der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde Deutschpilsen, aus der Zeit der Jahrtausendwende spricht aber bereits davon, dass die „deutsche Ethnie und das deutsche Selbstbewusstsein bis heute fast gänzlich untergegangen sind, lediglich die Alten über 65-70, also die Generation meiner Großeltern, sprechen die alte, in Ungarn einzigartige Pilsener „sächsische” Mundart.” Der Ortshistoriker datiert den Anfang des Prozesses des Unter- gangs der Pilsner Deutschen auf die Zwischenkriegszeit: „Nach der Verstümmelung des Landes wurde - aufgrund einer Anwei- sung der Regierung, die eine Beschleunigung der Assimilierung der Nationalitäten anstrebte - in den beiden konfessionellen Schulen von Börzsöny, also Deutschpilsen, die deutsche Un- terrichtssprache durch Ungarisch ersetzt – den Unterricht der deutschen Sprache hat man auf wöchentlich drei-vier Stunden beschränkt, was für eine solide Aneignung der Sprache unzu- reichend war. Als Folge dessen löste sich die uralte, kulturelle und emotionale Bindung, die zwischen den Bewohnern, die die für Außenstehende unverständliche Pilsener „sächsische” Mund- art sprachen, und den anderen deutschsprachigen Gebieten be- stand. So empfand die Generation, die in der Zwischenkriegszeit aufwuchs, nicht nur die Madjaren als Fremde, sondern verstand auch diejenigen Deutschen nicht, die eine andere Mundart oder Hochdeutsch sprachen. Darüber hinaus verstand die Mehrheit derjenigen Kleinkinder, die in den 1920er, 1930er Jahren ein- geschult wurden, von dem ungarischsprachigen Schulstoff und den Erklärungen der Lehrer im ersten oder in den ersten zweiten Grundschuljahr so gut wie nichts. Nach den sechs Grundschul- jahren (sic!) sprachen sie in der Regel lediglich das Deutschpil- sener auf Muttersprachenniveau, das sie aber nicht verschrift- lichen konnten, wohingegen ihnen das ungarische Lesen und Schreiben – jedenfalls theoretisch – beigebracht wurde, welche Sprache aber für sie eine gelernte, fremde Sprache blieb, was deren Pflege und schriftliche Anwendung sehr erschwerte. 1910 hatte Deutschpilsen 1900 Einwohner, unter denen sich 85%, also ungefähr 1600 Menschen, zum Deutschtum bekannten. Als Ergebnis des Drucks seitens der von ungarischer/madjarischer Ungeduld (sic!) beseelten Gesellschaft und Regierung bekann- ten sich 1941 nur noch 226 Menschen zu ihrem Deutschtum.” Bemerkenswert offene Analyse eines Pilsener Lokalpatrioten. Nicht weniger bemerkenswert sind seine Ausführungen zu den Schicksalsjahren zwischen 1944-1956: „Infolge des verlorenen Krieges - im Zeichen der Kollektivschuld - traf eine ganz Reihe von Vergeltungen die deutsch bewohnte, also eindeutig „kriegs- schuldige” Gemeinde. Januar 1945 trieben sowjetische Soldaten mehrere dutzend Männer und junge Frauen ins Sammellager in Berzel/Ceglédbercel, wo sie per Bahn nach Russland weiter- transportiert wurden. Manche konnten nach einem, die große Mehrheit erst nach 2, 3 oder gar 4 Jahren zurückkehren – viele starben aufgrund der unmenschlichen Zustände in den Arbeits- lagern. Während des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise der Malenkij Robot starben 74 Pilsener. Hinzukommen die Verluste der 4-5 jüdischen Familien. (…) Der landesweite Prozess der Vertreibung der Deutschen erreichte Deutschpilsen 1948. Alle kamen auf die Liste, die sich bei der Volkszählung von 1941 zum Deutschtum bekannten beziehungsweise Mitglied des Volks- bunds waren oder in der SS Dienst taten. Es ist traurig, dass es der ungarische Staat war, der April 1944 ein Abkommen mit Hitler-Deutschland abgeschlossen hat, in Folge dessen er seine deutschsprachigen Staatsbürger dem Reich, also der SS, über- ließ. Von den etwa 100 Pilsener SS-Soldaten wurden im Laufe von 1944 auf Grundlage dieses Abkommens – mit Unterstützung der ungarischen Streitkräfte – 85 zwangseingezogen, und weni- ge Monate später war es derselbe ungarische Staat, der sie zum Kriegsverbrecher und Vaterlandsverräter abstempelte.„ 12 Tibor Fleischer, der sich 2002 auf die Suche nach seinen Pil- sener Vorfahren begab, berichtet in seinen Aufzeichnungen, die sich auch auf Informationen von Zoltán Batizi beruhen, dass etwa 40% der Deutschpilsener vertrieben wurden – aber anders als Deutsche woanders kamen sie in slowakisch bewohnte Dör- fer des Komitats Naurad. Die restlichen Bewohner mussten zu- sammenziehen, um Platz zu machen für die Madjaren aus der Slowakei, die - wie Batizi bemerkt - „ebenfalls wegen ihrer Natio- nalität vertrieben wurden.” Diese verließen aber in den nächsten Jahren den Ort und verkauften ihre Häuser an die Deutschen, die bis Mitte der 1950er Jahre in großer Zahl nach Deutschpilsen zurückkehrten. Was bewusste Assimilierungspolitik, Verschlep- pung und Vertreibung nicht schafften, das gelang dem zum Teil politisch intiierten Transformationsprozess: Viele wanderten aus der Landwirtschaft in die Industrie ab, die besser bezahlte. Die Zwangskollektivierung tut ihr Übriges und sorgte für einen Nie- dergang der Weinkultur. Die „Pflege anderer Traditionslinien” sorgten auch nur zum endgültigen Verschwinden der Deutschen in Pilsen. In den bereits zitierten Ratsprotokollen steht: „Das Volk von Pilsen kann nicht richtig Deutsch. Diese Sprache ist eine zum Dialekt verkommene angelsächsische Sprache.” „In seiner Familie kann jeder diese Sprache pflegen. (…)” „Im Falle unserer Gemeinde geht es um einen abgeschlossenen Assimilierungs- prozess, den man künstlich nicht ändern kann, und ein derartiger Versuch würde für Unruhe in der Bevölkerung sorgen und auf heftigen Widerstand stoßen.” Und der Rat fasste folgenden Be- schluss: „Der Rat stellt fest, dass es in der Gemeinde kein Na- tionalitätenproblem gibt, die Bevölkerung (Nationalität) möchte diejenigen Rechte nicht nutzen, die der Nationalität auf Grund- lage der Verfassung unserer Volksrepublik zustehen.” Sie unter- stützten hingegen all die Bestrebungen, (...) die darauf zielten, die nichtschriftlichen Zeugnisse „für die Zukunft” aufzuheben.” Also, Archivieren und Ausstellen, was dann jeder wehmütig oder auch nur kulturinteressiert bestaunen darf. Am Ende dieses Prozesses das traurige Fazit von Batizi: „Die Bevölkerungsabnahme, die 1945 ihren Anfang nahm, dauert auf- grund der Abwanderung und Alterung seit sechs Jahrzehnten an, gegenwärtig wohnen hier gerade einmal 800 Seelen. Die deut- sche Ethnie und das deutsche Selbstbewusstsein sind bis heute fast gänzlich untergegangen, lediglich die Alten über 65-70, also die Generation meiner Großeltern, sprechen die alte, in Ungarn einzigartige Pilsener „sächsische” Mundart. Die Zahl der im Dorf ansässigen – und ebenfalls madjarisierten – Roma ist in den letz- ten Jahrzehnten – zum Teil dank den neu Zugezogenen, aber vielmehr wegen der großen Zahl von Familien mit 6-8 Kindern – explosionsartig gestiegen und beträgt gegenwärtig 150.” Zeitgeschehen-Geschichte s VOR 100 JAHREN (1918-2018) ZERFALL DER DONAUMONARCHIE - DREITEILUNG DER DONAUSCHWABEN Thema einer Historiker-Tagung in Wudersch / Budaörs Ein Bericht von Harald Diehl Am 13. Oktober veranstaltete die Deutsche Kulturgemeinschaft Wudersch bzw. die Jakob Bleyer Gemeinschaft e. V. im Haus der Rentner (Nyugdíjas Ház), unter der Leitung von Prof. Dr. Nelu Bradean-Ebinger (Wudersch), der auch die Moderation be- sorgte, die Historikertagung „VOR 100 JAHREN (1918-2018): ZERFALL DER DONAUMONARCHIE − DREITEILUNG DER DONAUSCHWABEN. Mag. Dr. Peter Wassertheurer (Wien) behandelte einführend das Thema „Der Zerfall der Donaumonarchie und die deutschen Volksgruppen im ehemaligen Zis- und Transleithanien zum Ver- gleich“. Zunächst ging der Vortragende der Frage nach, was die k.u.k. Donaumonarchie der Habseburger 1914 zum Untergang ver- SoNNTAGSBLATT