Sonntagsblatt 4/2015 | Page 29

Nutzung in einem erbärmlichen Zustand. Von hier aus wurden die bedauernswerten Menschen zur Zwangsarbeit in die beiden ansässigen wichtigen Industriebetriebe unter strenger Bewachung geführt und nach Arbeitsende wieder zurückgebracht.
Diese triste Unterkunft war jetzt zunächst für etwa fünfhundert Schorokscharer – die anderen Landsleute zogen es vor nach Nür- tingen gebracht zu werden – zum kurzfristigen Domizil.
Nach acht Tagen Lageraufenthalt begann dann gegen Ende Mai für uns die endgültige „ Verteilung” in die neuen Wohnorte und in die unter „ Wohnraumzwangsbewirtschaftung” zur Verfügung ge- stellten Quartiere. Meist waren die zugeteilten Zimmer Be- standteil einer kleinen Wohnung, oder eines Bauernhaushaltes. Zu diesen Unterkünften gehörten aber auch Waschküchen, Fut- terkammern, Kellerräume, Dachböden und Schulsäle. Vielfach stießen die Einweisungen nicht gerade auf Begeisterung bei den Eigentümern. Oftmals mussten Bürgermeister und Ortspolizei ihres Amtes walten und hatten meist eine sehr ungeliebte Aufgabe zu erledigen!
Für Opa, Oma, Onkel, Tante und meinen zweijährigen Cousin ging es auf einem amerikanischen Armeelastwagen mit zwei geflochtenen Weidenkörben und mehreren Bündeln( batyuval...) von Wasseralfingen über Hüttlingen in den kleinen Weiler Niederalfingen.
Auf halber Strecke war in Großvater der ungarndeutsche Pio- nier- und Arbeitsgeist bereits wieder erwacht: hatte er doch unterwegs am Wegesrand eine kleine Fabrik entdeckt! Zu seinem Sohn gewandt sagte er: „ Pischti( Stefan), do keinntn mi ad auch heit Nochmittog frogn, ob die weim zan Orwedn braugn”! „ Voda, muass deis heit scha sei?” fragte der Sohn.„ Jo, va wos selln ma deinn lebn”? „ Jo, wunz eis maats, nocht geima hold hie und frogn!”
Nachdem man die Einquartierung hinter sich gebracht hatte – beim Bauern Kaspar Wanner war noch ein Zimmer und eine kleine Mansarde frei und beide konnten „ bezogen” werden – den beiden Frauen wurde die gemeinsame Nutzung einer „ Schwarz- küche” zugesagt. Die Bauersfrau hatte Mittagessen gemacht und gab den neu angekommenen „ Überraschungsgästen” auch etwas ab.
Nachdem man sich etwas informiert und umgesehen hatte, machten sich die beiden Männer auf den Weg in die besagte Fab- rik. Beim Näherkommen hörten sie ein vielstimmiges Tack, Tack, Tack …, konnten sich aber nicht erklären, was diese Geräusche zu bedeuten haben und waren daher schon sehr gespannt, was hier wohl produziert wird.
Am Werkstor versperrte eine gefährlich aussehende Bulldogge den beiden den Zutritt. Einem hinter dem Zaun stehenden jungen Mann erklärte der Großvater in seinem Schorokscharer Dia- lekt sein Begehren, was der Arbeiter jedoch nicht sofort verstand. Er sagte zu ihnen, er werde den Chef und Fabrikbesitzer Herrn S. herbeiholen.
Herr S. kam dann alsbald ans Tor und fragte Vater und Sohn nach ihrem Anliegen. Opa fragte direkt und ohne Umschweife, ob er und sein Sohn hier Arbeit finden könnten. Dabei versuchte er auch seine derzeitige Situation zu erklären: Sie seien Ungarn- deutsche aus der Nähe von Budapest und wären heute in Niede- ralfingen angekommen und hätten dort eine Unterkunft gefunden.
Herr S. hörte aufmerksam zu und bemerkte dann, dass er sehr wohl Arbeit in seiner Nägelfabrik für sie hätte.
Als Opa ihm erzählte, dass er vor einiger Zeit bereits in Csepel in einer Gießerei und in Budapest in der Gewehrfabrik( Fegy- vergyár) an verschiedenen Maschinen gearbeitet habe, wurden die beiden Schorokscharer „ Eisbauern”( Jeges) eingestellt – so einfach war das damals – und sie sollten sich am nächsten Tag um sechs Uhr am Werkstor einfinden. Eine Bedingung stellte Herr S. aber den beiden: die Einstellung habe aber nur ihre Gültig- keit, wenn sie morgen ihren „ körperliche Tauglichkeit” beweisen würden!! Damit konnten die beiden jedoch nichts anfangen und willigten ein.
Alsbald kehrten sie zu Oma und Tante zurück und berichteten freudestrahlend von ihrem Glück, Arbeit gefunden zu haben! Beide Neuarbeiter waren gerade mal 11 Tage in Deutschland und hatten, außer dem „ Lageressen”, noch keine weitere staatliche Hilfe erhalten!
Am nächsten Morgen waren beide pünktlich mit ihren „ Schorokscharer Schmalzbroten“ am Werkstor und ein bereits informierter Meister erwartete die beiden „ Ungarn-Flüchtlinge!”. Er machte sie mit den einzelnen Abteilungen im Betrieb bekannt. Da gab es die Beizerei, wo mit Hilfe von Säure die Rohdraht- bünde gesäubert wurden, die Drahtzieherei, in der die Rohdrähte auf die entsprechenden Nägel-Durchmesser blankgezogen wurden und dann noch die eigentliche Nägelproduktion mit den Nagelstauchmaschinen. In den beiden kleineren Abteilungen wurden die fertigen Nägel maschinell geputzt. Die Packerei war für das Wiegen und Einpacken der Produkte in Papierpackungen zuständig – hier arbeiteten hauptsächlich Frauen.
Nachdem man den Betrieb etwas kennengelernt hatte, wurden Vater und Sohn an ihre zukünftigen Arbeitsplätze zum „ Ein ler- nen” gebracht. Opa sollte an einer Ziehbank( Maschine) und Onkel an einer Nagelmaschine arbeiten. Die beiden stellten sich ganz gut an und Onkel wurde bereits am Nachmittag mit der Aufsicht über eine Nagelmaschine beauftragt, denn sein Anlern- geselle hatte drei Maschinen in Betrieb zu halten. Opa studierte die Arbeitsweise einer Ziehbank und half dem dort beschäftigten Arbeiter bei der Beschickung mit Rohdraht. So verging langsam der Arbeitstag und die beiden waren sehr gespannt, wann die „ körperliche Tauglichkeitsprüfung” – heute würde man das als „ Fitnesstest” bezeichnen – stattfinden sollte und was sich dahinter wohl verbergen würde!!?
Kurz vor fünf Uhr wurden die beiden zum Chef zitiert und dieser ging mit ihnen auf den Hof, in den soeben ein LKW mit An- hänger eingefahren war. Der Fahrer stieg gerade aus dem Füh- rerhaus und öffnete die Planen. Opa und Onkel ahnten noch nicht, was jetzt geschehen sollte, bis Herr S. ihnen erklärte, dass jetzt die Stunde des „ Einstellungstests” gekommen sei. Der Fah- rer hätte aus den Röchling-Stahlwerken im Saarland Rohmaterial für die Nägelherstellung gebracht. Auf Motorwagen und Hänger lägen jeweils 80 Drahtbünde mit einem Durchmesser von etwa einem Meter und einem jeweiligen Gewicht von 80kg! Ihre Auf- gabe sei es nun, die Fracht abzuladen und zu stapeln und das von Hand bzw. unter Einsatz des Rückens! Herr S. und der Fahrer, der bereits Feierabend hatte, schmunzelten und waren gespannt wie die „ Flüchtlinge” das wohl schaffen wollten.
Opa hatte die ganze Situation schnell durchschaut und schaltete auf Schorokscharer Dialekt um: „ Du Pischti, die zwa mana, mia keina neit orwedn, pass auf, deini werma sietz zagn, wia die Soroksára Aisbaurn orwedn keinna. Mia däfn uns ietz ka bissl schwoch zagn, kumm, mia faunga au! Die zwa durt haum nu nix davau ghert, dass di Schwom va Schorokschar a afm Ais üvalem keinna(„ A svábok˙még a jég hátán is megélnek”).
Nach eineinhalb Stunden härtester Knochenarbeit hatten es die beiden geschafft und damit ihren ersten 10-stündigen Arbeitstag in Deutschland absolviert und das mit jeweils zwei Schmalz- broten …
Herr S. war mit den beiden Malochern zufrieden und stellte sie endgültig ein. Leider blieb dieser Test nicht ohne Folgen, jeden Donnerstag mussten die beiden ran und Tonnen von Draht abladen!
( Fortsetzung auf Seite 30)
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