Sonntagsblatt 3/2025 | Page 6

obere) Mittelschicht mit bereits vorhandenem Vermögen ausgerichtet war und dort unbestritten die meisten Früchte trug. Andere Bevölkerungsgruppen- zum Beispiel die untere Mittelschicht- profitierten hingegen in viel geringerem Maße von den Vergünstigungen, da sie über kein nennenswertes Vermögen oder Einkommen in entsprechender Höhe verfügen. Zukünftig muss die Familienfreundlichkeit der jeweiligen Regierung auch diese Schichten der ungarischen Gesellschaft berücksichtigen und ein funktionierendes Modell für sie entwickeln. Zweitens muss die Politik zu der Erkenntnis gelangen, dass erfolgreiche Familienpolitik nicht am Kinderbett endet, sondern eines stabilen sozialen Versorgungsnetzes bedarf: dazu gehören Hebammen, ein möglichst flächendeckendes Hausarztnetz( heute sind landesweit um die 1000 Hausarztpraxen unbesetzt), Krankenhäuser und zugleich Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen. Ärzte und Lehrer müssen wertgeschätzt und wettbewerbsfähig bezahlt werden. Wenn sie die Nachhaltigkeit dieser Strukturen sehen, wagen auch junge potenzielle Eltern dann mutiger den Schritt zur Familiengründung. Drittens müssen wir einfach die heutige Welt und den heutigen Menschen verstehen; es reicht nicht, sich nur auf die reinen wirtschaftlichen Bedingungen zu konzentrieren. Die jüngeren Generationen( von den späten X- bis zu den frühen Z-Generationen) leben derzeit als Pioniere ihr Leben wie einen Test in einer von Globalisierung und Individualisierung geprägten Gesellschaft: Frühere soziale Muster wie Familie, Verwandtschaft oder andere Gemeinschaftsformen werden in Frage gestellt. Das Internet brachte eine ungeheure Menge an Wissen und Möglichkeiten über uns, alternative Realitäten und Bindungen zu generieren. Zudem ermöglichten die Demokratisierung des Wissens und die zunehmende gesellschaftliche Mobilität- siehe die Emanzipation der Frau- breite Karrierewege und alternative Lebenseinstellungen. Die Zahl der Singles und Kinderlosen nimmt von Jahr zu Jahr zu( siehe z. B. die vielsagende „ Childfree- / kinderfreie Bewegung”) und auch Paare überlegen heute zweimal, ob sie ein Kind bekommen oder lieber eine Katze halten. Am Ende des Tages wird der Lebenstest der digitalen Eingeborenen-Generationen durchlaufen und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach bestätigt, dass Familie und Kinder ein von Gott gegebenes Geschenk im Leben sind: Auch in der postmodernen Zeit verschwindet es nicht aus der menschlichen Natur. Es bildet eine der Quellen langfristigen Glücks sowie der existenziellen Sicherheit des Individuums.
Hier kann die Regierung ins Spiel kommen, deren Verantwortung es ist, über die sozialen Einrichtungen hinaus Gesetze zu erlassen, damit Eltern, die Kinder erziehen, auf dem Arbeitsmarkt keinen Nachteil erleiden und dies mit dem Karriereaufbau vereinbar ist. Dabei kann man auch an die Angleichung von Gehaltsunterschieden denken. Aber nicht nur die Förderung des familienfreundlichen Arbeitsumfelds, sondern auch die allgemeine gesellschaftliche Stimmung muss durch gezielte Kommunikation angeregt werden. Beim vierten Punkt greife ich in ein Wespennest, da ich die Migration en bloc nicht von vornherein ablehne. Demografen betonen nämlich, dass für die Aufrechterhaltung des ungarischen Rentensystems eine große Zahl neuer steuerzahlender Arbeitskräfte benötigt würden. Dennoch würde man am liebsten mit solchen Neusiedlern in Ungarn planen, die sich kulturell an die ungarischen Verhältnisse anpassen können und keine Migrationskrisen verursachen wie in westeuropäischen oder in deutschen Landen. Solche christlichen, autochthonen europäischen Einwanderer könnten etwa Bundesdeutsche, Niederländer oder Flamen sein( deren Zahl in Ungarn zunehmend steigt, aber zurzeit doch mit bescheidenen demografischen Wirkungen) sowie
6 vor dem Krieg fliehende Ukrainer- sogar die Ansiedlung südafrikanischer Buren auf der Ungarischen Tiefebene wurde in regierungsnahen Kreisen erwogen.
Diese neuen potenziellen Kolonisten führen uns zum fünften Punkt, zu den Nachfahren der alten Kolonisten: Wo positioniert sich in all dem die deutsche Nationalitätengemeinschaft? In statistischer Hinsicht ist es schwer, die Familiengründungsbereitschaft des Ungarndeutschtums zu erfassen, da es schwierig ist, diese Daten gruppenspezifisch aufzuschlüsseln. Außerdem stellt sich die Frage, wen man darunter versteht: Nur diejenigen, die sich als deutsche Nationalitätenangehörige bekennen oder die landesweit verbreiteten „ schwabenbewussten” Deutschstämmigen, die einen sehr bedeutenden Teil der ungarischen Bevölkerung ausmachen? Es steht völlig fest, dass unsere Stammesgenossen bestimmte Charakterzüge aufweisen, die auch auf die Nationalität und die breitere deutschstämmige Ethnie übertragbar sind: Zum Beispiel lebt der Kern unserer Bevölkerungsgruppe typischerweise in ländlichen Kleinsiedlungen oder in der Agglomeration. Er ist politisch meist konservativ-christlich eingestellt und gehört vermutlich überwiegend zur finanziell gesicherten Mittelschicht. Er ist auch in Bezug auf Bildung und Qualifikation in einer vorteilhaften Position( von akademischen Karrierewegen bis hin zu gut ausgebildeten Facharbeitern). Letzteres lässt zudem darauf schließen, dass Deutschstämmige aufgrund ihrer Sprachkenntnisse sowie der deutschen und österreichischen Mutterlandbeziehungen und Studien viel stärker der westwärts gerichteten Abwanderung ausgesetzt sind. Ein weiteres Dilemma besteht zudem darin, inwieweit das traditionelle katholische Mehrkindfamilienmodell in der konservativen, konfessionell überwiegend katholischen Einstellung der Ungarndeutschen wirkt. In Irland beziehungsweise Nordirland ist dieses Modell traditionell eine Grundlage für die dort höheren Geburtenraten. All diese offenen Fragen sollten durch gezielte soziologische Untersuchungen beantwortet werden. Hier sollte man klären, wie die Reproduktionskultur des Ungarndeutschtums im Spiegel der gesamtungarischen Verhältnisse und insbesondere der Abwanderung zu charakterisieren ist. Wichtig ist es auch zu klären, wie diese Erkenntnisse auf die ungarische nationale Bevölkerungspolitik übertragen und angewendet werden können.
„ Die ungarische Familienpolitik”- in den konservativen politischen Kreisen des deutschen Sprach- und Kulturraums hörte man in den letzten Jahren, aus Ungarn kommend, oft das Loblied, das diesen Titel trägt. Wahrlich, die positiven Ergebnisse der ersten Phase machten das „ Familienfreundliche Ungarn” tatsächlich zu einem Paradebeispiel in und für ganz Europa, auf das man mit Recht stolz sein konnte und kann. Über den praktischen Nutzen hinaus wird auch eine werteorientierte Botschaft vermittelt: die Bindung an die eigene Nation, Sprache und Kultur bewahren. In Zukunft sollten Nation, Sprache und Kultur durch die Geburt möglichst vieler Kinder gesichert werden, wodurch das Fortbestehen der nationalen Gemeinschaft garantiert wird. Der Schlüssel dazu sind Prosperität der und Respekt vor der Familie als Institution in der Gesellschaft. Die alten Errungenschaften der Familienpolitik lassen sich jedoch nur durch aufrichtiges Hinsehen und gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung sowie durch Solidarität über alle Bevölkerungsgruppen, Berufsstände und Politikbereiche hinweg wiederholen. Darauf können dann das „ Familienfreundliche Deutschland”, das „ Familienfreundliche Polen”, das „ Familienfreundliche Frankreich” – und schließlich das „ Familienfreundliche Europa” folgen.