Sonntagsblatt 3/2025 | Page 4

„ FAMILIENFREUNDLICHES UNGARN”- DEM ZEITGEIST ENTGEGEN

Von Stefan Pleyer
Unternehmen „ Kinder statt Katzen”- während langsam auch die letzten Blätter der Hoffnung fallen, dringt der demografische Winter unaufhaltsam auf dem europäischen Kontinent vor. Im Lichte unserer modernen Aufzeichnungen lässt sich feststellen, dass im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten noch nie so wenige Kinder geboren wurden. Das bedeutet praktisch, dass die Geburtenrate von etwa 2,1 pro Frau, also der zur Erhaltung der Bevölkerung notwendige Wert für so gut wie alle Länder des alten Kontinents mittlerweile nur noch ein unerreichbarer Traum ist. Einige Länder suchen in der Untätigkeit oder in weniger verantwortungsbewusster Migrationspolitik das Allheilmittel. Die ungarische Regierung setzte in der Mitte der 2010er Jahre ihre Fregatte der demografischen Strategie auf einen völlig neuen Kurs- nämlich auf eine proaktive und unterstützungsbasierte Familienpolitik. Die mit christlich-konservativer Ideologie und dem Grundgesetz untermauerten Maßnahmen nahmen sich zum Ziel, die seit 1981 negative Bevölkerungsentwicklung der einheimischen ungarischen Bevölkerung( einschließlich der Nationalitäten) umzukehren. Die Bemühungen wurden anfangs von Erfolg gekrönt, doch die 2020er Jahre stellten die familienzentrierte Doktrin Ungarns vor mehrere Herausforderungen. Warum verlor dieser Mini- „ Baby-Boom” seinen Schwung? Wie lassen sich die Hindernisse beseitigen? Wie kann der ungarndeutsche Bevölkerungsteil dazu seine „ kleinen Steinchen” beitragen?
Bevölkerungspolitisch gesehen waren die „ Good old Days” für die Europäer auch in den ersten Jahren der 2010er bereits vorbei. Zu dieser Zeit übernahm die postmoderne Globalisierung das Ruder, die die Kinderbereitschaft der Population peu á peu dezimierte: die Nachwirkungen der Finanzkrise von 2008, die Karriereorientierung und spätere Kinderplanung sowie die Ausbreitung der individualistischen Lebensauffassung der abendländischen Menschen. Das von den Karpaten umgebene Stephansland im Herzen Europas fand sich nach 2010 ebenfalls diesen Drachen gegenüber- ganz zu schweigen von der stark polarisierten politischen Lage nach 2006 und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die ungarische Geburtenrate lag um 2010 bei etwa 1,25, der EU-Durchschnitt bei 1,5. Das zweite
4
Orbán-Kabinett zog den Handschuh an und legte die Grundlagen einer neuen zentralen Familienpolitik mit den ersten Steuervergünstigungen. Dadurch wurden insbesondere Zwei- oder Mehrkind-Familien unterstützt. Dies war die praktische Umsetzung des von Orbán geprägten und 2010 verkündeten national-christlich-konservativen Kurswechsels. Das Fundament dazu bildete das 2012 in Kraft getretene Grundgesetz( Alaptörvény), das mit Gottesbezug und einem nationalen Credo beginnt. Die seither 15-mal geänderte Verfassung legt fest, dass die Familie die Grundlage der Gesellschaft und damit auch der Nation sei. Sie entstehe durch die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau nach dem traditionellen Verhältnis der Geschlechter. Darüber hinaus verpflichtet sich die jeweils amtierende ungarische Regierung, die Familiengründung und Kindererziehung mit Taten zu unterstützen.
Im Jahr 2015 nahm diese Unternehmung sogar eine neue Dynamik an: Das CSOK( Családi Otthonteremtési Kedvezmény, dt.: Baukindergeld) begeisterte einen bedeutenden Teil junger Familien, da es beim Kauf oder Bau von Wohnungen unterstützend eingriff. Hinzu kam noch der Babaváró-Kredit( also eine Art Kredit für die Verpflichtung, Kinder in der Zukunft zu gebären), der das Mehrkind- Familienmodell zu fördern und eine Art sozialen Vertrag mit den Ungarn zu schließen versuchte: Je mehr Kinder in einer Familie geboren werden, desto weniger muss an aufgenommenen Krediten zurückgezahlt werden( max. eine Höhe von 10 Millionen Forint, 26.000 Euro). Bei drei Kindern entfiel die gesamte Rückzahlung. Das Programm wollte auch das schönere Geschlecht ansprechen( Orbán: „ Ich will einen Vertrag mit den ungarischen Frauen schließen”), namentlich in Form der Einkommensteuerbefreiung( SZJA-mentesség) für Mütter mit mehreren Kindern. So entstand die ungarische Brandmarke „ Familienfreundliches Ungarn”(„ Családbarát Magyarország“), die man auch auf Flughäfen in Plakatform sehen kann. Als Gesicht wählte man die mehrsprachige calvinistische Juristin und Expertin für Internationale Beziehungen Dr. Katalin Novák. Sie verkörperte zugleich die Rolle der erfolgreichen Karrierefrau und der kinderreichen, national engagierten