Sonntagsblatt 3/2024 | Page 30

men Hirschinger fanden sich im „ Sammelwerk “ lediglich zwei Eintragungen : eine lothringische Familie , die vor 1785 / 86 nach Kimling / Dunakömlőd ( 80 km nördlich von Baar ) ausgewandert war , und eine weitere Familie in Kirne / Környe bei der Totiser Kolonie / Tatabánya ( 220 km nördlich von Baar ). Im Vergleich dazu erschienen Angaben zu einem gewissen „ Anton Hirsinger “, der 1753 aus dem Hegau ( nordwestliches Bodenseegebiet ) ins Baarer Nachbardorf Schomberg / Somberek ausgewandert sein soll , trotz des leicht abweichenden Namens wesentlich erfolgversprechender . Auch wenn sich das im „ Sammelwerk “ als Wohn- oder Geburtsort von Anton Hirsinger genannte Dorf Honstetten und der Zielort Schomberg bei späteren Recherchen als etwas ungenaue Hinweise herausstellten , wurden dadurch viele Vermutungen und Spekulationen beendet . Recherchen auf der Internetplattform „ Familysearch “ ergaben schließlich , dass im Kirchenbuch von Seetschke / Dunaszekcső – nur wenige Kilometer von Schomberg und Baar entfernt – am 20.6.1753 die Taufe eines Kindes namens „ Franciscus Hersinger “ verzeichnet wurde . Als Vater war „ Antonius Hersinger “ angegeben . Wie aus den bei „ Familysearch “ einsehbaren Taufeintragungen der Pfarreien Seetschke und Schomberg hervorging , wurden dort bis zum Ende des 18 . Jahrhunderts zahlreiche weitere Geburten unter dem Familiennamen „ Hersinger “, „ Hirsinger “ oder „ Hirschinger “ verzeichnet . Ich befand mich auf der richtigen Spur . (...)
Obwohl ich meine genealogische Forschung mit großer Akribie betrieb , betrachtete ich sie nie als Selbstzweck . Es ging mir nicht allein darum , die Verwandtschaftsverhältnisse und Lebensdaten meiner Vorfahren zu rekonstruieren , sondern ich versuchte , daraus Informationen über ihre Lebensumstände zu gewinnen . Dies betraf vor allem die in Kirchenbüchern enthaltenen Informationen über die Lebenserwartung , Kinderzahl , Kindersterblichkeit , Todesursachen , Berufe und das Heiratssystem im Dorf . Bezogen auf das 17 . und 18 . Jahrhundert förderten intensive Recherchen im Fürstlich Fürstenbergischen Archiv in Donaueschingen , im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Komitatsarchiv Fünfkirchen ( Ungarn ) eine Fülle zusätzlicher Informationen über die Familie Hirschinger zu Tage , womit ich in diesem Umfang und in dieser Qualität nicht gerechnet hatte . Das anfänglich noch schwankende Bild , das ich mir vom Leben meiner Vorfahren machte , begann klarere Konturen anzunehmen . Um einen lesbaren Text zu gestalten , führte ich die Ergebnisse meiner genealogischen und archivalischen Recherchen mit Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Literatur , mit Briefen und Dokumenten aus Familienbesitz sowie mit persönlichen Erinnerungen von Angehörigen zusammen , wobei ich eine kritische Distanz gegenüber belanglosen und unglaubwürdigen Anekdoten zu wahren versuchte . Durch die Konfrontation mit zahlreichen tragischen Schicksalen stellte sich bei mir immer wieder emotionale Betroffenheit ein . Hätte ich jemals die Absicht gehabt , eine verklärende Familiengeschichte zu schreiben , so wäre diese Absicht an den harten Fakten gescheitert . Mit zunehmender Dauer der Recherche begann sich meine eigene Wahrnehmung zu verändern und ich revidierte anfängliche Vermutungen und Interpretationen , die sich als unhaltbar erwiesen . Die Familie Hirschinger war im 17 . und 18 . Jahrhundert eben keine „ Lehrerfamilie “ gewesen , die sich hinsichtlich ihrer sozialen Position von der übrigen Dorfbevölkerung abhob , sondern sie gehörte der unterbäuerlichen landarmen Schicht an , deren Armut und 30 gelegentliche soziale bzw . moralische Auffälligkeit sie teilte . Auch in Ungarn erreichte die Familie nur wenig , sondern stieg nach sehr bescheidenen Anfängen als Kleinhäusler und Kleinbauern infolge der Zwangsversteigerung ihres Besitzes ( 1877 ) ins Tagelöhnermilieu ab . Diesem Milieu entkam sie nur durch die kriegsbedingte Flucht in den Jahren 1944 / 45 . In dieser Deutlichkeit war mir dies nie zuvor bewusst geworden . Um die Veränderung meiner eigenen Wahrnehmung zu dokumentieren , fügte ich dem entstehenden Buch Auszüge meiner Reisetagebücher aus den Jahren 1991 bis 2020 bei , versuchte ansonsten jedoch , mich nicht in den Vordergrund der Darstellung zu drängen .
Eine erste schriftliche Zusammenfassung der Recherche-Ergebnisse übergab ich meinem Vater anlässlich seines 80 . Geburtstages im November 2017 . In den folgenden Jahren führte ich weitere Recherchen in den bereits erwähnten Archiven sowie im Hauptstaatsarchiv Stuttgart durch . Dabei sichtete ich einige bereits bekannte Akten ein zweites Mal und zahlreiche noch unbekannte Akten erstmals . Hinzu kamen Online-Bestände des Diözesanarchivs Fünfkirchen ( Ungarn ). Die Corona-Krise in den Jahren 2020 / 21 warf meine Familienforschung aufgrund monatelanger Zugangsbeschränkungen zu Archiven und Kirchenbüchern zeitweilig zurück . Aus dem bis dahin gewonnenen umfangreichen Archivmaterial und weiterem online verfügbaren Material ( u . a . österreichisch-ungarische Zeitungen ) gewann ich jedoch viele neue Informationen , die meinen Blick auf die Geschichte der Familie Hirschinger deutlich schärften . Dies betraf vor allem die soziale Isolation der in Emmingen verhassten Familie im 17 . Jahrhundert sowie ihre Verschuldung in den 1730er , 1740er und 1750er Jahren . Dazu kamen Bräuche und Mentalität des dörflichen Lebens in Emmingen sowie der bescheidene Besitzstand der Familie bzw . ihr wirtschaftlicher und sozialer Abstieg in Bár in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts . Einige sachliche Irrtümer , denen ich aufgesessen war , konnte ich korrigieren und die Darstellung im Ganzen wesentlich detaillierter gestalten , ohne die Grundannahmen meiner früheren Darstellung revidieren zu müssen . (...)
Das Ziel meiner Bemühungen bestand letztlich darin , das Leben der Vorfahren in all seiner Einfachheit , Härte und Tragik , aber auch in den von großem persönlichem Mut zeugenden Wendepunkten darzustellen . Entstanden ist ein breites historisches Panorama , das vom 17 . bis ins späte 20 . Jahrhundert reicht und in dessen Mittelpunkt 13 Generationen der Familie Hirschinger stehen . Die Akteure sind einfache ungebildete Menschen , die jahrhundertelang in historischer Anonymität versunken waren und nichts von dem leisteten , was später üblicherweise in Geschichtsbüchern steht . Dennoch ist das , was sie tatsächlich leisteten , wert , in Erinnerung gehalten zu werden – und sei das auch „ nur “, das Überleben ihrer Familien in schwierigen Zeiten gesichert zu haben und dabei oft genug selbst früh gestorben zu sein . Ihrem Andenken widme ich dieses Buch .“
Turbulente und erprobende Zeiten klopfen an der Haustür : Die technische Revolution dreht sich auf einer erhöhten Stufe , welches Phänomen zugleich auch die Globalisierung ankurbelt . Den uniformisierenden globalen Tendenzen sind die Sprachen , aber ganz besonders die Dialekte und Regionalsprachen existenzbedrohlich ausgesetzt .
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