sich sehr stark mit dem , was sie berichteten und erlebten es innerlich nach . Viele ihrer Berichte trugen anekdotischen Charakter , manches – besonders ihre Jugenderinnerungen aus den 1920er Jahren - wirkte idealisiert und klammerte schmerzhafte Erfahrungen aus .
Die Lektüre der Briefe , die sich in dem kleinen schwarzen Koffer befanden , erwies sich als sehr aufwändig und mühsam . Bei den Verfassern handelte es sich um einfache Arbeiter und Tagelöhner , deren Vorfahren im 18 . Jahrhundert aus Südwestdeutschland nach Ungarn ausgewandert waren . Als Angehörige einer nationalen Minderheit hatten sie nur dürftigen muttersprachlichen Unterricht erhalten und kaum Gelegenheit gehabt , sich mit Hilfe deutscher Bücher und Zeitungen weiterzubilden . Auf den ersten Blick erschienen viele Briefe meiner Urgroßeltern und Großonkel als nahezu unlesbar , da sie zahlreiche orthographische und grammatische Fehler , Mischformen deutscher und ungarischer Schreibweisen sowie lateinischer und deutscher Buchstaben enthielten . Oft hatten auch donauschwäbischer Dialekt und ungarische Ausdrücke in die Umgangssprache der deutschsprachigen Dorfbewohner Eingang gefunden . Doch hinter der rohen äußeren Form der Briefe wurden Menschen erkennbar , die bei aller Schlichtheit emotionale Wärme und eine starke moralische Haltung auszeichnete – eine Haltung , die gelegentlich auch in moralischen Rigorismus umschlagen konnte . Die Briefe der Verwandten zeigten , wie sehr die Familie unter der Trennung infolge von Krieg , Flucht und Kaltem Krieg zu leiden hatte . Abgesehen von meinen Großeltern und meinem Vater , die der Krieg 1946 in ein kleines Bauerndorf bei Ulm verschlagen hatte , waren alle übrigen Familienmitglieder in ihrem südungarischen Heimatdorf Baar verblieben . Die zwischen 1945 und 1953 entstandenen Briefe der in Ungarn verbliebenen Verwandten enthielten zahlreiche Hinweise auf die politische und wirtschaftliche Situation , die sich unter der Herrschaft der ungarischen Kommunisten erheblich verschlechterte . Insofern handelte es sich bei den Briefen nicht nur um einen Fund , mit dessen Hilfe ein Teil der Familiengeschichte rekonstruiert werden konnte , sondern auch um ein interessantes Zeitdokument zur Geschichte der Donauschwaben . Nach und nach entzifferte ich die Briefe , korrigierte die gröbsten orthographischen und grammatikalischen Fehler und nutzte die Texte als dokumentarische Basis für eine biographische Darstellung , die ich meinem Vater im November 2007 anlässlich seines 70 . Geburtstags überreichte . Wie er mir später erzählte , reagierte er beim Lesen sehr gerührt . Viele Episoden der Familiengeschichte waren ihm nicht bekannt gewesen .
Danach ruhte das Thema einige Jahre lang , ohne mich innerlich völlig los zu lassen . Insbesondere fragte ich mich , wann und aus welchem Ort die Familie Hirschinger nach Ungarn ausgewandert war . Meine Großeltern hatten immer geglaubt , ihre Vorfahren seien „ aus dem Schwarzwald gekommen “, ohne dies näher begründen zu können . Ihre Annahme beruhte wohl nicht auf familiärer Überlieferung , sondern entsprach einer weit verbreiteten Auffassung unter den Donauschwaben , die sich häufig für ausgewanderte Schwarzwälder hielten . So berichtete ein deutscher Autor 1929 , er sei während eines Aufenthalts in Südungarn auf die „ hundertmal gleichlautend gegebene Auskunft “ gestoßen : „ Wir stammen alle aus dem Schwarzwald .“ Die Frage der Herkunft und andere ungeklärte Fragen beschäftigten mich bereits 1975 im Alter von 9 Jahren , als ich während eines ersten Aufenthalts im Heimatdorf meines Vaters die damals noch lebenden donauschwäbischen Verwandten befragte . So jedenfalls berichtete es während meines zweiten Besuches im Sommer 1991 eine Schwester meines Großvaters . (...)
Um der Sache auf den Grund zu gehen , begann ich 2015 im Internet nach Literatur und Quellen zu suchen . Dabei wurde ich auf den „ Arbeitskreis donauschwäbischer Familienforscher “ ( AKdFF ) und das dort herausgegebene „ Sammelwerk donauschwäbischer Kolonisten in Ungarn “ aufmerksam . Die Gelegenheit schien günstig , mit Hilfe der darin enthaltenen Angaben zu allen dokumentarisch belegbaren Ungarnauswanderern auch den donauschwäbischen Stammvater der Familie Hirschinger zu entdecken . Zum Familienna-
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