Sonntagsblatt 3/2024 | Page 27

Die Erforschung der neueren geschichtlichen Erinnerung der Deutschen im nördlichen Donauvorland ( Transdanubien , ung . Dunántúl ) zwischen 1940 und 1970 übernahm der Experte der ungarndeutschen Geschichte Dr . Georg Ritter im Rahmen einer PhD-Doktoratsdissertation , welche mit der Doktorvaterschaft von Dr . Zsolt Vitári von der Universität Fünfkirchen betreut wurde . Zu seinem intellektuellen Werkzeug wählte der Historiker die Methode der Analyse der „ Oral History “. Wie die englische Benennung verrät , nehmen die Forscher der „ mündlichen Geschichte ” die persönlichen , „ mündlichen ” Überlieferungen unter der Lupe . Daraus entsteht dann eine Stück für Stück aufgebaute Rekonstruktion eines historischen Ereignisses - jenseits der offiziellen zeitgenössischen Dokumente und bereits veröffentlichen Fachbücher . In diesem Prozess spielen Privatpersonen - d . h . betroffene Zeitzeugen , Dorfbewohner oder Familienmitglieder die Rolle der Hauptquellen . Jeder Historiker hat Kenntnis davon , dass „ eine Quelle keine Quelle ist ”, deshalb bemüht er sich darum , während der Arbeit mit mehreren Subjekten zu interagieren : Je größer der Kreis der involvierten Personen ist , desto präziser wird am Ende die Synthese - durch die Unterscheidung zwischen der individuellen und der kollektiven Erinnerung .
Ritter stellte sich noch einer weiteren Herausforderung , als er seiner Dissertation eine spezielle Dimension gab . Das zentrale Element der aufgenommenen und später ausgewerteten Interviews sei das „ Unterwerfungsnarrativ ” der Ungarndeutschen im untersuchten Zeitraum ( dem ungarischen Titel zufolge : „ Oh Vaterland , warum ließt Du es geschehen ? Ó , hazánk , miért hagytad , hogy ez így legyen ?” A magyarországi németek alávetettségi narratívája az Észak-Dunántúlon 1940-1970 ).” - die deutsche Übersetzung siehe im Titel des Artikels . Den genauen Forschungsgegenstand gewähren die ungarndeutschen Einwohner des nördlichen Donauvorlandes , die im Auftakt des Ritter ’ schen Werkes auch näher analysiert werden : Woraus bestand ihr Selbstbewusstsein , was war ihr Verhältnis zur deutschen Muttersprache , wie konnten sie als Deutsche ihre katholische Religion ausüben , wie gestalteten sie ihr gemeinsames Leben mit den nichtdeutschen Magyaren , und noch weitere . Der „ Enumeration ” der Befragten folgt die Ausführung des oben erwähnten Unterwerfungsnarrativs , wenn die verschiedenen erlebten Traumata des in der ausgewählten Region lebenden Deutschtums zum Vorschein kommen .
Die Volkszählung von 1941 eröffnet die Reihe der Geschehnisse der Kriegszeit , wobei die Nationalitätenangehörigen sich diesmal nun auch vor den Behörden äußern mussten , welcher Nationalität sie angehören und was ihre Muttersprache ist . Die ersten Jahre der 40er führen uns in die Beurteilung der Tätigkeit des Volksbundes ein . Die vielfältigen Kriegsgeschichten steuern hier den Kurs der Dissertation : die Zwangsrekrutierung in die SS , dann der eigentliche Dienst dabei oder die in Honvéd / Landwehr-Uniformen erfüllte Soldatenpflicht . Diverse Erlebniswege der ungarndeutschen Männer im Zweiten Weltkrieg werden beleuchtet . Auf dem ungarischen Kriegsschauplatz und unter der sowjetischen Besatzung wurde die deutsche Bevölkerung um noch schockierendere Erfahrungen „ reicher ”, besonders deswegen , weil sie sich in den Augen der Besatzer wegen ihrer deutschen Herkunft in einer äußerst benachteiligenden Situation befanden . In der letzten Etappe des Krieges bzw . in der beginnenden Nachkriegszeit nahm diese benachteiligende Unterwerfung auf unterschiedliche Weise Gestalt an - wie z . B . bei der Malenkij-Robot , wo abseits der überlieferten Opferrolle auch das Glück im Verband mit Überlebensgeschichten zur Geltung kommt . In einer stattlichen Sektion der Analyse herrscht naturgemäß die Oral-History-Aufarbeitung der Vertreibung vor , daneben das Schicksal der „ Muttersprachler ” („ anyanyelvesek ”). Bei der Kategorisierung der Zeitzeugen-Berichte operiert Georg Ritter mit sog . „ Spaltungspunkten ”. Es handelt sich dabei um von den Ungarndeutschen unterschiedlich wahrgenommene Erlebnisse . Dadurch erlebten bestimmte Untergruppen einige geschichtliche Entwicklungen unterschiedlich . Es entstanden miteinander manchmal in Konflikt stehende Untergruppen wie z . B . Volksbundisten und Assimilierte in der neuen Heimat Deutschland . Die Aufnahme der Erinnerungen der in die ungarischen KZ-Lager ( Hortobágy , Tiszalök , usw .) Deportierten ist als großer Verdienst der Dissertation zu betrachten . Die Repressalien , Entrechtung und anderen Schwierigkeiten , woran die ganze ungarische Bevölkerung sich gewöhnen musste , sind weit und breit bekannt .
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