Sonntagsblatt 3/2024 | Page 26

Wortschatz
Mit einem Masterabschluss auf Deutsch und nach jahrelanger geschäftlicher und privater Nutzung der Sprache sollte man meinen , dass es kein Problem sei , mit einem Kind auf Deutsch zu kommunizieren . Doch dann kam die kalte Dusche . Ein Beispiel : das Wort „ Nabelstumpf “ ( ungarisch : Köldökcsonk ). Ein Wort , das mir bis dahin weder auf Deutsch noch auf Ungarisch bekannt war . Plötzlich wurde mir bewusst , dass ich in diesem Bereich mehr Wörter von der Packung deutscher Drogerieprodukten kenne als ich die je benutzt hätte .
Es gibt auch andere Wörter und Ausdrücke , die man im Alltag mit einem Baby braucht : „ furzen “, „ Schluckauf haben “, „ rübsen “, „ stillen “. Wörter , die man nicht jeden Tag verwendet und die man entweder neu lernen oder aus den tiefsten Winkeln des Gedächtnisses hervorholen muss .
Schnell wurde mir klar , dass die Beherrschung der sogenannten „ Küchensprache “ unerlässlich ist . Wenn man diese nicht von zu Hause mitbringt ( was in meiner Generation nicht ungewöhnlich ist ), muss man sie sich aneignen . Es hilft schließlich wenig , mit dem Kind über die politischen Entwicklung Deutschlands zu sprechen , wenn es eigentlich um Windeln und Brei geht .
Name und Identitätsbildung
Wie soll ich mein Kind nennen ? Einerseits müssen die Eltern sich auf einen offiziellen Namen einigen , aber es stellt sich auch die Frage : Welcher Kosename ist passend ?
Wenn man ein Leben lang seine Gefühle auf Ungarisch oder vielleicht überhaupt nicht sprachlich ausgedrückt hat , ist es eine Herausforderung , dies plötzlich auf Deutsch zu tun . Das ist ein Prozess , wo man sich daran einfach gewöhnen kann . Wie bei allen Prozessen , sind die ersten Schritte die schwierigsten . Ich denke , dass für den gesamten Sprachgebrauch gilt : Man muss eine Gewohnheit daraus machen . Wie man das tut , ist eine komplexe Frage .

FEUILLETON

Zurück zum Namen : Heute ist es nicht mehr so schwierig zu entscheiden , ob man die ungarische oder die deutsche Variante des Vornamens eintragen lässt . Dank der ungarischen Gesetzgebung ist es möglich , sowohl die ungarische ( z . B . András ) als auch die deutsche Variante ( z . B . Andreas ) einzutragen . Wie einfach das in der Praxis ist , werde ich in einem anderen Artikel erzählen – kurz gesagt : nicht so einfach …
Hier könnte man auch über die kulturelle Identität des Kindes nachdenken . Welche Traditionen und Werte sollen dem Kind vermittelt werden ? Wie kann man eine ausgewogene Identität fördern , die sowohl die schwäbische als auch die deutsche und ungarische beinhaltet ? Der Name spielt dabei eine zentrale Rolle , denn er ist oft das erste , was Menschen mit einer bestimmten Kultur in Verbindung bringen .
Ausstattung
In unserer heutigen Welt ist es keine große Herausforderung mehr , Bücher , Kleidung , Spielzeuge und vieles mehr in deutscher Sprache zu kaufen . Eine kleine deutsche Welt kann im Kinderzimmer problemlos geschaffen werden . Doch die Umgebung des Kindes beschränkt sich nicht nur auf das Kinderzimmer . Es ist auch wichtig zu überlegen , wie das Umfeld außerhalb des Hauses gestaltet werden kann , um die Sprachentwicklung zu unterstützen . Wie kann man sicherstellen , dass das Kind regelmäßig Deutsch hört und später spricht , auch wenn es sich nicht zu Hause befindet ?
Was mir während der Annäherung zum Thema auffiel , ist , dass die für die ungarndeutsche Situation passenden Hilfsmittel fehlen . Wenn man es vorhat , dass die deutsche Sprache in das Familienleben zurückzuholen , dann brauchen wir auch Motivationstexte , Werbung und vor Allem Hilfsmittel , damit man nicht alles googeln muss .
Aus diesen und weiteren Gründen werde ich in den nächsten Artikeln über aktuelle Erfahrungen , Herausforderungen und Schwierigkeiten sprechen . Wenn der Storch mit seiner wertvollen Fracht bereits unterwegs ist , bleibt nur wenig Zeit zur Vorbereitung – deshalb ist es umso wichtiger , sich frühzeitig Gedanken zu machen .
NEUE PHD-DISSERTATION VON GEORG RITTER :

’ DAS UNTERWERFUNGSNARRATIV DER UNGARN- DEUTSCHEN IM NÖRDLICHEN DONAUVORLAND ( 1940-1970 )’

Von Stefan Pleyer
Es ist nicht alles ohne Grund , was umgeht in Volkes Mund ” - mahnt die alte , bekannte Redewendung , dass die ungeschriebenen Erzählungen und Geschichten in vielen Fällen über einen Informationswert verfügen . In der Zeit der klassischen Geschichtsschreibung galt für eine lange Zeit die Devise : Was nicht niedergeschrieben wurde , ist auch überhaupt nicht passiert . Tragi-
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scherweise brachte das 20 . Jahrhundert eine zuvor eher negligierte Fundgrube , nämlich die Erzählungskraft der epochalen Katastrophen des letzten Jahrhunderts . Diese wurzeln in den aktiven Erinnerungen der Überlebenden . Wenn es um die Schicksalsschläge der vorigen Generationen geht , haben die Ungarndeutschen bergeweise davon .
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