Sonntagsblatt 3/2022 | Page 24

oberdeutsche Dialekte darunter zu finden und noch etliche weitere .
Gleichzeitig unterscheiden sich die russlanddeutschen von den binnendeutschen Dialekten recht deutlich - aufgrund ihrer lang andauernden separaten Entwicklung ohne den Einfluss des Standarddeutschen , da sie über einige Jahrhunderte hinweg kaum neuen Input daraus erhalten haben . Dadurch wirken die russlanddeutschen Dialekte einerseits wie » konserviert «, weil sie Wörter und Strukturen aufweisen , die seit über hundert Jahren nicht mehr gebräuchlich sind , wie etwa das schwäbische Wort Zweel für › Handtuch ‹, andererseits haben die Umsiedlungsphasen für intensiven Sprachkontakt beispielsweise mit dem Russischen und auch für Sprachmischungen innerhalb von Dialekten geführt , wie das folgende Beispiel eines wolgadeutschen Sprechers zeigt :
( 1 ) No un da woer ich uf de balnitza un hun mit säll wratsch gsproche . ( Nun und da war ich im Krankenhaus und habe mit jenem Arzt gesprochen .)
Der Sprecher ist Jahrgang 1931 und damit Angehöriger der ersten Generation - das heißt in Bezug auf die Datenerhebung der Verfasserin - geboren in einer deutschen Kolonie der Wolgarepublik . Er integriert die russischen Wörter balnitza ( Krankenhaus ) und wratsch ( Arzt ) ganz selbstverständlich in seine Rede mit Hessisch als Hauptvarietät . In dieser Generation werden russische Wörter in den Redefluss meist nach den Regeln der deutschen Grammatik eingebaut , was den Sprecherinnen und Sprechern allerdings selten bewusst ist . Das Wort » gsproche « zeigt , dass hier bereits Sprachmischungen mit einem anderen Dialekt oder Regiolekt stattgefunden haben , da es nicht typisch für das Hessische ist .
Mit ihren Kindern hat diese Generation aufgrund von Deportationen aus den deutschen Gebieten und der sowjetischen Sprachrepressionspolitik zunächst nur noch im häuslich-privaten Bereich in ihrem Dialekt gesprochen . Doch wurde das Russische als Umgebungssprache sowie im Rahmen der Schul- und Berufsbildung immer dominanter , so dass die folgende Generation ( der etwa 1943 bis 1974 Geborenen ) immer häufiger Russisch sprach . Das wirkte sich auf die Kommunikation auch in der Familie aus :
( 2 ) Also Aussprache is nicht mehr so , aber Verstehen schon . Zwischendurch versuche ich mit Mama und Papa Plattdeutsch zu sprechen , wenn keiner dabei ist . Oder mit meiner Freundin im Norden . […] Es klappt auch nicht mehr so richtig . Ich verstehe alles , aber beim Sprechen habe ich Schwierigkeiten , weil man das nicht mehr gebraucht . […] Also mit den Eltern und Großeltern haben wir schon immer Plattdeutsch gesprochen , mit meinen Geschwistern zuerst auch Plattdeutsch und irgendwann Russisch , als alle zur Schule gingen . Hochdeutsch haben wir erst in Deutschland untereinander angefangen zu sprechen .
Diese Sprecherin der zweiten Generation aus einer Familie mit plautdietscher Mundart schildert durchaus verbreitete Phänomene der Mehrsprachigkeit in russ-