160.000-200.000 . Es wird nach meinem Eindruck nur noch wenig deutsch gesprochen und das , was wir noch in den 1990ern erlebt haben , gibt es nicht mehr . Sagen wir es so : Es ist anders geworden . Die dort verbliebenen Deutschen interessieren sich für die Wurzeln und das Brauchtum und betreiben intensive Brauchtumspflege . Es gibt immer noch zwei deutsche Rayons , Asowo und Halbstadt , in denen es Schulen mit muttersprachlichem Unterricht gibt und auch in der Verwaltung hat man das Recht , die deutsche Sprache zu benutzen ”, berichtet der Künstler über seine Erfahrungen und erzählt im Anschluss auch von der Zeit , in der der heute Mittfünfziger aufgewachsen ist .
„ Deutsch war prägend für uns ”, denn in seiner Familie sei deutsch beziehungsweise die hessische Mundart gesprochen worden bzw . werde immer noch gesprochen . „ Wir babbeln so wie die Hessen ”, sagt er und deutet auf die Herkunft seiner wolgadeutschen Familie hin : Pretzers Vorfahren kamen unter Katharina der Großen aus Südhessen , aus der Gegend von Darmstadt und Stockstadt , ins Zarenreich . „ Meine Oma , die 1992 mit 89 Jahren gestorben ist , konnte kaum Russisch . Gerade sie prägte mich maßgeblich , denn ich wuchs mit ihr und meiner alleinerziehenden Mutter auf . Sie ( Anm .: die Oma ) war eine Art Betschwester , also ein Ersatz für einen Pfarrer , und hat Kinder getauft , Tote beerdigt und heimliche Versammlungen organisiert , bei denen man sehr auf der Hut sein musste , damit die russischen Nachbarn nicht misstrauisch wurden . So feierten wir auch Weihnachten ganz unauffällig . Ihr Wunsch war es eigentlich , dass ich evangelischer Pastor werde ”, so Viktor Pretzer . Sein Dorf war ethnisch und sprachlich gemischt , wohingegen seine russlanddeutsche Frau aus einem „ rein deutschen Dorf ” stammte – es war nach seinen Angaben ein Verbund von drei deutschen Kolchosendörfern , in denen auch die Kolchosenvorsitzenden Deutsche war und wo auch die Kinder untereinander deutsch sprachen . Eine Erfahrung , die Pretzer auch in den 1980er und 1990er Jahren des Öfteren gemacht habe , als er mit dem Deutschen Staatstheater durchs Land fuhr : „ Die Kinder in den Dörfern verstanden das Vorgetragene sofort und
SPRACHE IM GEPÄCK
VON KATHARINA DÜCK haben darauf reagiert ”. Seine Frau hatte ab der ersten Klasse muttersprachlichen Unterricht , er erst ab der fünften Deutsch-Fremdsprachenunterricht . Der Sprachgebrauch in Russland und Kasachstan sei daher in seiner Generation der Mitte-Fünfzigjährigen von Familie zu Familie , Rayon zu Rayon , Ort zu Ort , unterschiedlich ( gewesen ).
Interessante oder vielmehr traurige Erlebnisse verbindet der Schauspieler mit der Fremdwahrnehmung der Russlanddeutschen : „ Drüben waren wir Faschisten , hier sind wir Russen ”. Dies führt er auf das Kriegstrauma in der russischen Bevölkerung zurück , wodurch diese einen Hass gegen alles Deutsche entwickelt habe , der den Verstand getrübt habe . So wurde Pretzer nach eigenen Angaben als Kind angegriffen und beschimpft , was er damals nicht verstehen konnte . Dies habe bei vielen Eigenschutzmechanismen ausgelöst : So sei oft die Nationalität im Inlandspass auf Russe geändert worden oder man habe den Namen von nichtdeutschen Familienmitgliedern angenommen . Auch in Deutschland waren die Erfahrungen keineswegs positiv : „ Mein Sohn wurde als Kommunist beschimpft , an einem deutschen Gymnasium , obwohl er perfekt Hochdeutsch spricht . Was mich bestürzt hat : Kein Offizieller stellte sich hinter ihn . Deswegen machte er in Königsberg Abitur ”.
Dennoch gelte für das Gros der 4,5 Millionen Russlanddeutschen in der Bundesrepublik : Sie haben sich nach Pretzers Eindruck etabliert , sind längst angekommen und sind gut integriert , wobei „ wir Deutsche waren mit oder ohne Sprache , aber wir haben die fehlenden Teile einfach geholt .” Viktor Pretzer leitet heute die Landesgruppe der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland . Er beklagt sich darüber , dass das Land Schleswig-Holstein keine Unterstützung für den „ Erhalt der deutschen Kultur , was wir mitgebracht haben ”, gewähre , im Gegensatz zu Hessen , Bayern und Baden-Württemberg beispielsweise .
Dennoch will sich der Schauspieler und Kulturschaffende mit Hilfe seiner Interbühne für mehr Austausch einsetzen – nicht zuletzt war das der Grund , einen Abstecher zur JBG zu wagen .
Erstmalig erschienen am 01 . Dezember 2021 im KK-Magazin des Deutschen Kulturforums Östliches Europa ; Zweitverwendung mit freundlicher Genehmigung des Kulturforums
Im Gepäck der etwa 2,5 Millionen der in den letzten rund dreißig Jahren in die Bundesrepublik eingewanderten ( Spät- ) Aussiedler aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion befand sich ein großes immaterielles Erbe . Dieses war nicht auf alle gleichermaßen verteilt , bei dem einen mehr , bei der anderen weniger spürbar und ist immer weniger geworden . Es handelt sich dabei um die mitgebrachten » russlanddeutschen « Dialekte . Was sind das für Dialekte und wer spricht sie noch ?
Wie diese Dialekte überhaupt erst ins » Gepäck « kamen , darüber könnten die Vorfahren der Auswandererinnen und Auswanderer berichten , die einst aus unterschiedlichsten Beweggründen und in mehreren historischen Phasen » aus deutschen Landen « wie Baden , Württemberg , der Pfalz , Hessen , Bayern sowie aus Mittel- und Norddeutschland aussiedelten und ihre Mundarten mit nach Russland nahmen . Folglich befinden sich unter den russlanddeutschen Dialekten im Prinzip auch alle Großtypen der heutigen deutschen Dialekte : Da ist mit dem Plautdietschen ein niederdeutscher Dialekt vertreten , mit dem Pfälzischen , Hessischen oder Wolhyniendeutschen gibt es mitteldeutsche Dialekte und mit Schwäbisch , Bairisch oder Südfränkisch sind auch