Sonntagsblatt 3/2022 | Page 16

Dialekte und einige andere Sprachinseln wurden aufgesaugt . Aber die kleine wallonische Nationalität , eingekeilt zwischen allerersten Kulturnationen , blüht weiter und sogar ganz winzige Natiönchen wie die Wenden oder die Ladiner oder die Basken zeigen überraschende Lebensfähigkeit . Unter solchen Umständen muss es wohl als Wahnsinn bezeichnet werden , wenn das relativ kleine Ungarn , resp . das nicht die Hälfte der Einwohnerzahl betragende Madjarentum sich vermaß , durch ein halbes Jahrhundert hindurch 6 bis 7 Volksstämme - darunter das kulturell turmhoch überragende deutsche Volk - madjarisieren zu wollen .
Aber selbst , wenn es wider Recht und Gerechtigkeit gelänge : Der Staat darf im eigenen Interesse die Volksstämme nicht ihrer Nationalität berauben , denn dadurch schwächt er sich selbst am allermeisten . Wir sahen es im Falle unseres Burgenlandes . In fünfzig Jahren hat Ungarn nicht mehr als einen Zuwachs von einigen tausend Madjaren erreicht , aber dafür hat es eines seiner wertvollsten Gebiete mit fast einer halben Million Einwohner zur zivilisatorischen , kulturellen und volkswirtschaftlichen Stagnierung gebracht . Der Chauvinismus ist ein Auswuchs , eine Krankheit auch dort , wo es sich um national einheitliche Staaten handelt , denn er führt mit Sicherheit zu Zentralismus und Imperialismus . Man sehe doch , wie in Frankreich seit der Herrschaft des Monsieur Chauvin alle edlen Eigenschaften des großen französischen Volkes von der Zentrale zur einheitlichen Nationalspeise verarbeitet werden und wie das französische Bürgertum der kleineren Städte , das immer das wertvollste in Frankreich gewesen ist , seelisch und kulturell verkümmert . Man blicke auf das Deutschland vor dem Kriege , das seit 1870 ja als Nationalstaat gelten kann . Wer kann leugnen , dass seitdem die All- und Großdeutschen ( und wie die Deutschen Chauvins alle heißen ) von der Hauptzentrale Berlin und von den anderen Nebenzentralen aus die deutsche Welt beherrschen , eine geradezu entsetzliche Leere und Plattheit im deutschen Geistes- und Seelenleben eingetreten ist . Wenn man so die von der „ gesamten “ Öffentlichkeit gepriesenen Werke der Berliner Zentrale zur Hand bekommt , da denkt man oft unwillkürlich : Kann das ein Deutscher geschrieben , gedichtet , gemalt oder komponiert haben ? Ist das überhaupt noch deutsch ?!
Es ist eine höchst merkwürdige Erscheinung , dass der Chauvinist , der doch scheinbar etwas eigenartig Nationales sein sollte , im Grunde der größte Internationalist ist . Ich habe das schon vor fast dreißig Jahren , als ich als neugebackener Jurist die Wiener Universität besuchte , beobachtet . Da kam ich einmal mit deutschnationalen , dann mit serbischen , polnischen , rumänischen usw . Studenten zusammen , wobei mir auffiel , dass sie in politischer Hinsicht alle dieselben Anschauungen hatten : Sie waren nämlich alle Chauvinisten . Auch in der Betätigung und Äußerung ihrer nationalen Gefühle waren sie so gleich . Der ganze Unterschied bestand nämlich darin , dass die einen „ Die Wacht am Rhein “ und „ Deutschland über alles “ sangen und von Bismarck und Moltke sprachen , während die Kollegen aus Böhmen , Polen und Rumänien ihre
Nationallieder sangen und von ihren Heroen sprachen . Man sieht , die Erziehung zum Nationalismus ist so einfach , sie bedarf keiner geistigen Schulung . Das dürfte ja auch mit ein Grund seiner großen Verbreitung und Beliebtheit sein .
Da also die gewaltsame Entnationalisierung eines Volksstammes geradeso wie die faktische Ausrottung vom ethischen Standpunkte aus unmöglich ist und nachdem ein freiwilliger Verzicht auf die Rechte der Nationalität selbst bei kulturell tiefstehenden Volksstämmen ausgeschlossen ist , so bleibt wohl nichts anderes übrig , als den Weg wieder zu suchen , den Ungarn und seine Volksstämme durch neun Jahrhunderte gegangen sind : den Weg des gegenseitigen Vertrauens , der gegenseitigen Achtung und Loyalität . Wir müssen also zurück , zurück zum mindesten bis zu Franz Deák , dem letzten ungarischen Staatsmann , der nicht von der Seuche des Chauvinismus ergriffen wurde .
Als die Arpaden und vorzugsweise König Stefan der Heilige die Deutschen in ihr Land riefen und hier ansiedelten , geschah es deshalb , weil sie einsahen , dass die Madjaren als Nomadenvolk in Europa nicht länger existieren könnten und dass sie der Lehrer bedürfen , die ihnen den Übergang vom Nomadenvolk zum abendländischen Staate ermöglichen . Tatsächlich sind die Deutschen die praeceptores Hungariae [ die Lehrer Ungarns ; d . Red ] gewesen . Es gibt in Ungarn keine Stadt , die nicht von Deutschen gegründet worden wäre . Das Einvernehmen zwischen Madjaren und Deutschen war immer ein ungetrübtes , trotz der riesigen Unterschiede in Charakter und Geistesart . Auch mit den anderen „ Nationalitäten “, die teils schon bei der Landnahme hier sesshaft waren , teils erst später kamen , gab es kaum nennenswerte Fehden . Der Verrat , der in der ungarischen Geschichte - namentlich in der Türkenzeit - eine so große Rolle spielte , war fast ausnahmslos immer im eigenen Lager der Madjaren entstanden . Erst als der Teufel der Zwietracht , des Misstrauens , des Neides und der Eifersucht , der Geist der Herrschsucht und Unterdrückung - mit einem Worte der Chauvinismus - bei uns Einzug hielt , bekamen wir alle Segnungen des Nationalbewusstseins zu spüren . Dem alten „ táblabíró “ [ Tafelrichter ; d . Red .] war der Chauvinismus so fremd , wie noch heute dem echt madjarischen Landmann oder Gutsbesitzer , falls letzterer durch den Geist der „ patriotischen “ Mittelschule noch nicht infiziert ist .
Bei Untersuchung des Problems dürfen wir eines Umstandes nicht vergessen : Ein national einheitlicher Staat kann wohl leichter und bequemer regiert und administriert werden , aber das Vorhandensein von verschiedenen Nationalitäten hat auch seine Vorteile . Ein homogener Staat erschlafft und verdorrt leicht , während die Bevölkerung eines polyglotten Staates Gelegenheit zum Vergleich , zur Nachahmung und zur Rivalität hat . Die hervorragenden Eigenschaften der einzelnen Nationalitäten kommen nirgends so klar zum Ausdrucke , wie gerade in dem zum Wettbewerb anregenden Organismus des Nationalitätenstaates . Die Rumänen , Serben , Italiener der alten Monarchie haben