Sonntagsblatt 3/2018 | Page 25

gekommen ist wie in anderen Teilen des Dorfes. So verfügen die Häuser jeweils über ein langgezogenes Grundstück von gut einem Joch Größe. Mein Gastgeber, dem nun eines dieser Höfe gehört, erzählte, dass seine schwäbischen Großeltern in einem anderen Teil des Dorfes wohnten, bis die Großmutter in die Un- gargasse einheiratete, was einer Statuserhöhung gleichkam, denn die Schwaben kamen in die Ungargasse als Dienstmägde. Es zeigt sich deutlich, dass sich Totwaschon von anderen Ort- schaften wie zum Beispiel dem nahegelegen Kaltenbrunn/Hi- degkút unterscheidet bzw. unterschied, das bis zur Vertreibung zu 95 % über eine deutsche Bevölkerung verfügte, madjarisch waren lediglich der Lehrer und der Pfarrer, wie einer meiner Ge- sprächspartner erzählte. Totwaschon wurde in der Zeit der Drei- teilung Ungarns nie osmanisch besetzt - auch wenn für kurze Zeit entvölkert -, so erwartete es die neue Zeit mit einer madja- rischen Dorfbevölkerung vornehmlich calvinistischen Glaubens. Im 18. Jahrhundert setzte sich eine massive Einwanderung von Deutschen und Madjaren ein, was auch Konsequenzen für das konfessionelle Bild des Ortes hatte: Bereits in diesem Jahrhun- dert wurde Totwaschon mehrheitlich katholisch. Diese deut- sche „Landnahme” scheint zu Legendenbildungen geführt zu haben, wie ein Gespräch in der Dorfkneipe zeigt: Hier spricht ein Herr Mitte Vierzig von der Verdrängung der Madjaren durch Deutsche, als wäre es gerade eben passiert. Auch andere Ge- sprächspartner sprechen davon, dass Totwaschon auch heute ein schwäbisches Dorf sei und weisen auf Aktivitäten rund um die Traditionspflege wie die Tätigkeit des Singkreises und an- derer Kulturgruppen hin. Zwei ältere Damen hingegen scheinen die Situation der deutschen Minderheit im Dorf etwas vorsichtiger zu beurteilen: Es gäbe nur noch wenig, was an das Deutschtum erinnere, die Sprache würde zudem kaum mehr gesprochen, so die Damen Mitte, Ende 70, von den sich die eine als gebürtige Totwaschonerin madjarischer Herkunft vorstellt. Auch das 20. Jahrhundert war markiert von Bevölkerungsbe- wegungen in der konfessionell, ethnisch-kulturell und sprachlich gemischten Gemeinde: Einen Einschnitt bedeutete ohne Zweifel die Vertreibung eines Teils der deutschen Bevölkerung und die Aussiedlung der so genannten „nyelvesek” (Personen, die sich 1941 zur deutschen Muttersprache bekannt haben) in nahe gele- genene Ortschaften, die erst später zurückkehren und ihre Häu- ser zurückkaufen konnten. Nach Erinnerung eines älteren Herrn, der jahrzehntelang im Nationalitätenbereich tätig war, wurden nach der Vertreibung Madjaren, oft aus ärmlichen Verhältnissen, im Dorf angesiedelt. So entstand nach seinen Angaben am Rand des deutschen Hauptortsteils rund um die katholische Kirche die „Telep utca” (Siedlungsgasse) mit 15 Häusern gleichen Typs, von den auch heute noch einige stehen. „Diese Gruppe stellte schon eine bedeutende Bevölkerung dar, wenn man bedenkt, dass man damals fünf-sechs Kinder im Schnitt hatte”, so der Zeitzeuge. „Heute sind wir nur noch wenige Deutsche geblieben”, resüm- miert der Mittsiebziger, der mit seiner ebenfalls ungarndeutschen Ehefrau ein großes Haus mit gepflegtem Garten im deutschen Dorfteil (oder wie die Totwaschoner zu sagen pflegen Taref) be- wohnt. Kulturell würde nach seinen Worten immer noch einiges passieren und weist auf das kommende Dorffest Mitte August und die alte Tradition des Fronleichnamsfestes hin. Die sprach- liche Situation betrachtet er aber bereits kritischer, und meint, dass die fünf Deutschstunden, ohne entsprechenden sprach- lichen Hintergrund in der Familie, für die Weitergabe oder gar Wiederbelebung der deutschen Sprache nicht ausreichen wür- den. Hier treffen sich seine Aussagen mit den Eindrücken aus dem Friedhof, wonach sich der Assimilationsprozess in diesem Dorf eher in Gang setzte oder gesetzt wurde als in anderen deut- schen Dörfen, womöglich nicht zuletzt wegen des gemischten Charakters des Dorfes. „Aber wir hätten auch das nicht mehr, was wir jetzt haben, wenn es Maria Schönwald nicht gegeben hätte, die als Deutschlehrerin viel für den Fortbestand der Spra- che und Kultur getan hat”, erinnert er sich. Die Wendezeit veränderte das Gesicht des Dorfes abermals, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Interessen und kulturellen Hintergrunds gingen – wie das Beispiel der beiden Kinder des eben genannten Herrn zeigen, die in Deutschland leben, aber bereits ihre Rückkehr planten – und kamen, was man an dem äußeren Erscheinungsbild der Häuser und Höfe ablesen kann. So reihen sich neue und alte Häuser, verlassene und bewohn- te, verkommene und welche im gute Zustand aneinander, wobei sich die Entwicklung mehr oder mehr auf den Rand fernab des Zentrums, wo Würfelhäuser aus den Sechziger- und Siebzigern dominieren, verlagerte. Stillstand und Aufbruch nebeneinander. Die Bedeutung der Zimmervermietung („Zimmer frei”), eine Er- scheinung der Wendezeit, scheint hingegen abzunehmen. Land- wirtschaft würde auch nicht mehr die Rolle wie früher spielen: „Für meine Generation war es selbstverständlich, neben dem Hauptberuf Landwirtschaft bzw. Weinbau zu betreiben. Aber langsam kommen wir ins Alter, wo es nicht mehr geht”, so mein schwäbischer - oder wie korrigierend ergänzt: fränkischer - Ge- sprächspartner. Mein Gastgeber spricht ergänzend davon, dass der Großgrundbesitz eine immer größere Bedeutung genießen würde, ähnlich wie vielerorts im Lande. Dies beim Fortleben von Formen der Hauswirtschaft - sicherlich vielfach aus der Not ge- boren - , wie das Beispiel einer Rentnerin demonstriert, die in der Wendezeit mit ihrer Tochter aus Alsóörs zugezogen ist und Erzeugnisse wie Eier verkauft. Nach Erzählungen anderer wür- den sehr viele Dorfbewohner im nahe gelegenen Nemesvámos arbeiten, der über mehrere Industriebetriebe verfügt, unter ande- rem über einen international agierenden Süßwarenhersteller aus Bonn. Darüber hinaus würden auch viele am Plattensee - Bala- tonfüred liegt zehn Minuten entfernt - oder in Wesprim eine Arbeit finden. Die Auslandsarbeit sei aber verhältnismäßig gering, zu- mal derjenige, der es wöllte, auch hier sein Glück finden würde, so einer der Herren in der Dorfkneipe. Wenig später beobachte ich einen Wagen mit britischem Kennzeichen, dessen Fahrer mit einer Dorfbewohnerin – wohl nicht auf Englisch – plauscht. Demografisch scheint sich das Dorf durch Neuzuzug auch ge- fangen zu haben, die Zahl der Geburten beträgt jedes Jahr um die 15 - wie vor der Wendezeit -, wie eine kleine Gedenkstätte im Dorfzentrum verkündet. Unter den Namen der Neugebore- nen finden sich auch deutsche, in der Größenordnung von etwa einem Fünftel, wobei es sich in erster Linie wahrscheinlich um Mischehen handelt. So schließt sich der Lebenskreis: Begonnen hat die Reise am Friedhof und endet stilvoll am „Lebensbaum”. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Zukunft für die verbliebenen Totwaschoner Deut- schen glücklicher gestaltet als ihr Schicksal in der Vergangen- heit. Aus historischen Erfahrungen heraus überwiegt aber leider eher die Skepsis, sprachlich die traurige Gewissheit. s Ansichten - Einsichten mein (ungarn-) deutschtum (31) Die Leiden des jungen Assimilierten -Gedanken des Corvinus- Pr ofessors Dr. Zoltán Tefner über eigenen Lebensweg und Identität In den Nebel längst vergangener Jahrzehnte ist meine erste Be- gegnung mit der deutschen Sprache eingehüllt. Ursprünglich wollte ich Französisch lernen. Das patinierte Ofner Gymnasium, das legendäre „Toldy”, mit seinem alten Namen das „Budai Fő- reál”, schien zum ersten Blick ein Labyrinth zu sein. Mindestens für einen 14-Jährigen, der das lauwarme Nest seiner Kindheit, Kötsching/Kötcse, verlassen musste. Nicht aus eigener Initiati- ve. Die Generalsitzung der Großfamilie im März 1963, unter der Leitung meines mütterlichen Großvaters, Adam Reichert, hat die Entscheidung getroffen: Er muss nach Stuhlweißenburg weiter (Fortsetzung auf Seite 26) SoNNTAGSBLATT 25