gehen, wo er in der Endre-Ságvári-Berufsschule für Maschinen-
industrie Abitur machen und – horribile dictu – einen Beruf er-
lernen soll. Beruf, betont mit einem demonstrativ aufgehobenen
Zeigefinger. Weil es damals der Zeitgeist der „Revolutionierung
des Dorfes” herrschte. Meine Generation und noch etwa vier
Jahrgänge vor mir und vier nach mir mussten das Dorf verlas-
sen um einen Beruf zu erlernen. „Kannst du alles werden, Kraft-
fahrer, Chemieingenieur, Seelsorger oder Straßenfeger, nur weg
von der LPG”, lautete die bis zur Langweile wiederholte Weisung
aus dem Munde der Eltern und Großeltern. Die Ablehnung einer
traditionellen, der Quelle nach deutschen Dorfgemeinschaft ge-
gen eine gewaltmäßige, unmenschliche Wirtschaftspolitik war so
tief, dass sie das Los der Kinder und das eigene Schicksal, die
eigene Zukunft außer Acht ließen. So wurde ich Professor an der
Budapester Corvinus-Universität. renziertes Bild über mich entstand: Was und wer ich eigentlich
bin. Aber die Frage kam schon diesmal im Spiegel meiner noch
anfänglichen deutschen Studien aufs Tapet. Wer ich eigentlich
bin? In Kötcse, als ich Kind war, klang das Wort „Schwabe” fast
als Schimpfwort. Etwas von uns fremder, uns nicht betroffener
Ausdruck. Wir sind Magyaren. Nicht besonders störte die Schu-
manns, Reicherts, Trimmels und Opperheims in dieser Abgren-
zung die deutsche Quelle ihrer Namen. Wir sind Magyaren und
wir unterscheiden uns von diesen „Koppánytalern”. Das „Kop-
pánytal” war in erster Linie mit der Ortschaft Dörötschke/So-
mogydöröcske identisch, mit der Kötsching durch die fast un-
übersichtliche Bande des Blutes verbunden war. Inbegriffen die
anderen evangelischen und teils kalvinischen Gemeinden wie
Bonnau/Bonnya und Etsching/Ecseny. Aber sie sind trotzdem
anders als wir.
Aber bis dahin ist noch viel Wasser die Donau hinuntergeflossen.
Gegen die Schule in Stuhlweißenburg habe ich mich empört auf-
gelehnt. Tagelang habe ich geweint, hinter dem Haus, wenn man
mich nicht sah. Mit 14 wollte ich schon Historiker werden. Ganz
ausführlich ist es in mein Gedächtnis eingegraben, wie ich zu
diesem Entschluss gekommen war. Die Schule von Kötcse ging
auf Ausflug nach Budapest. Der Bus, ein im Jahre 1963 sehr mo-
derner Ikarus mit Heckmotor, „farmotoros”, sauste unaufhaltsam
zwischen Siófok und Lepsény dahin, und ich saß neben meiner
Lieblingsfreundin, Ági Poesz, mit der ich schon mit 11 von unse-
ren Eltern „theoretisch” gepaart waren. Und sie sagte mir, dass
die Freundin der Freundin ihrer Mutter eine Historikerin ist. Eine
sehr ernsthafte Beschäftigung, und noch dazu muss man nicht
zu viel arbeiten, man muss nur wissen, welcher König wann und
wie lange herrschte. Und man bekommt dafür viel Geld. Eine mir
am besten passende Beschäftigung – dachte ich. Homo propo-
nit, deus disponit. Ausgemacht. Meine ersten Deutschstudien haben das Netzwerk dieser nega-
tiven Vorurteile von Grund auf aufgewühlt. Ich fing an, mich als
ein Deutscher oder Schwabe (?) zu fühlen. Ich konstruierte dies-
bezüglich sinnberückende Geschichten über unsere Wurzeln,
Familienabstammung, über die Beweggründe unserer Abwande-
rung aus Thüringen. (Damals glaubten wir nach den Papieren
der Kirchengemeinde, dass wir aus Thüringen gekommen waren,
eine falsche Legende, die ich dreißig Jahre später in der Dorfmo-
nographie von Kötcse widerlegt habe, nachdem ich das wirkliche
Abwanderungsgebiet in Hessen im Laufe meiner Forschungen
entdeckt hatte.) Meinem Großvater habe ich mehrmals vorgetra-
gen, dass wir eigentlich wegen unserer evangelischen Religion
von den bösen Katholiken aus Thüringen (fast rein evangelisch)
weggejagt worden sind, die ganze Bevölkerung des Dorfes be-
steht aus Thüringer Adeligen, in der alten Heimat mit viel Erde,
weshalb sie flüchten mussten, und die bösen Katholiken haben
sich ihre Besitztümer angeeignet.
Die Vertriebenen zerstreuten sich in der großen Welt. Mir selber
wurde das aus der Ohnmacht des niedergeschlagenen Aufstan-
des gerade noch auferstandene Budapest zugelassen. Keine
Ahnung, warum ich eben Französisch lernen wollte. Vielleicht
deswegen, weil es mir auf Grund meiner Lektüre wie Jókai und
Gyula Verne so elegant erschien. Jedenfalls nachdem ich am 1.
September den ersten Stock des neugotischen Gebäudes gefun-
den hatte, türmte sich vor mir die Aufgabe, das Klassenzimmer
zu finden, wo Französisch unterrichtet wird. Entweder per Zufall
oder durch mein Missgeschick kreuzte sich mein Weg in dieser
kriselnden Sekunde mit dem von „Burger bácsi”, dem Pedell des
Instituts. „Da, um die Ecke”, sagte Burger bácsi nachlässig, weil
er an diesem Tag zweifellos viel zu tun hatte, auf meine Frage,
wo Französisch unterrichtet wird. Es ist nicht zu schwer zu erra-
ten, dass ich infolge meiner Hemmungen und Ratlosigkeit nicht
den richtigen Raum, also den des I./c. gewählt habe, sondern ich
ging in den des I./d hinein. Es bedarf keiner weiteren Erklärung,
dass in der Klasse I./d. neben dem Russischen das Deutsche die
Unterrichtssprache war. Bürokratische Verwicklungen löste zum Beispiel mein Namens-
zug aus. Um meine deutsche Identität und Herkunft zu betonen
fing ich an den Namen Tefner mit a-Umlaut zu schreiben: Täf-
ner. Die Form stimmte