gekommen ist wie in anderen Teilen des Dorfes. So verfügen
die Häuser jeweils über ein langgezogenes Grundstück von gut
einem Joch Größe. Mein Gastgeber, dem nun eines dieser Höfe
gehört, erzählte, dass seine schwäbischen Großeltern in einem
anderen Teil des Dorfes wohnten, bis die Großmutter in die Un-
gargasse einheiratete, was einer Statuserhöhung gleichkam,
denn die Schwaben kamen in die Ungargasse als Dienstmägde.
Es zeigt sich deutlich, dass sich Totwaschon von anderen Ort-
schaften wie zum Beispiel dem nahegelegen Kaltenbrunn/Hi-
degkút unterscheidet bzw. unterschied, das bis zur Vertreibung
zu 95 % über eine deutsche Bevölkerung verfügte, madjarisch
waren lediglich der Lehrer und der Pfarrer, wie einer meiner Ge-
sprächspartner erzählte. Totwaschon wurde in der Zeit der Drei-
teilung Ungarns nie osmanisch besetzt - auch wenn für kurze
Zeit entvölkert -, so erwartete es die neue Zeit mit einer madja-
rischen Dorfbevölkerung vornehmlich calvinistischen Glaubens.
Im 18. Jahrhundert setzte sich eine massive Einwanderung von
Deutschen und Madjaren ein, was auch Konsequenzen für das
konfessionelle Bild des Ortes hatte: Bereits in diesem Jahrhun-
dert wurde Totwaschon mehrheitlich katholisch. Diese deut-
sche „Landnahme” scheint zu Legendenbildungen geführt zu
haben, wie ein Gespräch in der Dorfkneipe zeigt: Hier spricht
ein Herr Mitte Vierzig von der Verdrängung der Madjaren durch
Deutsche, als wäre es gerade eben passiert. Auch andere Ge-
sprächspartner sprechen davon, dass Totwaschon auch heute
ein schwäbisches Dorf sei und weisen auf Aktivitäten rund um
die Traditionspflege wie die Tätigkeit des Singkreises und an-
derer Kulturgruppen hin. Zwei ältere Damen hingegen scheinen
die Situation der deutschen Minderheit im Dorf etwas vorsichtiger
zu beurteilen: Es gäbe nur noch wenig, was an das Deutschtum
erinnere, die Sprache würde zudem kaum mehr gesprochen, so
die Damen Mitte, Ende 70, von den sich die eine als gebürtige
Totwaschonerin madjarischer Herkunft vorstellt.
Auch das 20. Jahrhundert war markiert von Bevölkerungsbe-
wegungen in der konfessionell, ethnisch-kulturell und sprachlich
gemischten Gemeinde: Einen Einschnitt bedeutete ohne Zweifel
die Vertreibung eines Teils der deutschen Bevölkerung und die
Aussiedlung der so genannten „nyelvesek” (Personen, die sich
1941 zur deutschen Muttersprache bekannt haben) in nahe gele-
genene Ortschaften, die erst später zurückkehren und ihre Häu-
ser zurückkaufen konnten. Nach Erinnerung eines älteren Herrn,
der jahrzehntelang im Nationalitätenbereich tätig war, wurden
nach der Vertreibung Madjaren, oft aus ärmlichen Verhältnissen,
im Dorf angesiedelt. So entstand nach seinen Angaben am Rand
des deutschen Hauptortsteils rund um die katholische Kirche die
„Telep utca” (Siedlungsgasse) mit 15 Häusern gleichen Typs, von
den auch heute noch einige stehen. „Diese Gruppe stellte schon
eine bedeutende Bevölkerung dar, wenn man bedenkt, dass man
damals fünf-sechs Kinder im Schnitt hatte”, so der Zeitzeuge.
„Heute sind wir nur noch wenige Deutsche geblieben”, resüm-
miert der Mittsiebziger, der mit seiner ebenfalls ungarndeutschen
Ehefrau ein großes Haus mit gepflegtem Garten im deutschen
Dorfteil (oder wie die Totwaschoner zu sagen pflegen Taref) be-
wohnt. Kulturell würde nach seinen Worten immer noch einiges
passieren und weist auf das kommende Dorffest Mitte August
und die alte Tradition des Fronleichnamsfestes hin. Die sprach-
liche Situation betrachtet er aber bereits kritischer, und meint,
dass die fünf Deutschstunden, ohne entsprechenden sprach-
lichen Hintergrund in der Familie, für die Weitergabe oder gar
Wiederbelebung der deutschen Sprache nicht ausreichen wür-
den. Hier treffen sich seine Aussagen mit den Eindrücken aus
dem Friedhof, wonach sich der Assimilationsprozess in diesem
Dorf eher in Gang setzte oder gesetzt wurde als in anderen deut-
schen Dörfen, womöglich nicht zuletzt wegen des gemischten
Charakters des Dorfes. „Aber wir hätten auch das nicht mehr,
was wir jetzt haben, wenn es Maria Schönwald nicht gegeben
hätte, die als Deutschlehrerin viel für den Fortbestand der Spra-
che und Kultur getan hat”, erinnert er sich.
Die Wendezeit veränderte das Gesicht des Dorfes abermals,
Menschen unterschiedlicher Herkunft, Interessen und kulturellen
Hintergrunds gingen – wie das Beispiel der beiden Kinder des
eben genannten Herrn zeigen, die in Deutschland leben, aber
bereits ihre Rückkehr planten – und kamen, was man an dem
äußeren Erscheinungsbild der Häuser und Höfe ablesen kann.
So reihen sich neue und alte Häuser, verlassene und bewohn-
te, verkommene und welche im gute Zustand aneinander, wobei
sich die Entwicklung mehr oder mehr auf den Rand fernab des
Zentrums, wo Würfelhäuser aus den Sechziger- und Siebzigern
dominieren, verlagerte. Stillstand und Aufbruch nebeneinander.
Die Bedeutung der Zimmervermietung („Zimmer frei”), eine Er-
scheinung der Wendezeit, scheint hingegen abzunehmen. Land-
wirtschaft würde auch nicht mehr die Rolle wie früher spielen:
„Für meine Generation war es selbstverständlich, neben dem
Hauptberuf Landwirtschaft bzw. Weinbau zu betreiben. Aber
langsam kommen wir ins Alter, wo es nicht mehr geht”, so mein
schwäbischer - oder wie korrigierend ergänzt: fränkischer - Ge-
sprächspartner. Mein Gastgeber spricht ergänzend davon, dass
der Großgrundbesitz eine immer größere Bedeutung genießen
würde, ähnlich wie vielerorts im Lande. Dies beim Fortleben von
Formen der Hauswirtschaft - sicherlich vielfach aus der Not ge-
boren - , wie das Beispiel einer Rentnerin demonstriert, die in
der Wendezeit mit ihrer Tochter aus Alsóörs zugezogen ist und
Erzeugnisse wie Eier verkauft. Nach Erzählungen anderer wür-
den sehr viele Dorfbewohner im nahe gelegenen Nemesvámos
arbeiten, der über mehrere Industriebetriebe verfügt, unter ande-
rem über einen international agierenden Süßwarenhersteller aus
Bonn. Darüber hinaus würden auch viele am Plattensee - Bala-
tonfüred liegt zehn Minuten entfernt - oder in Wesprim eine Arbeit
finden. Die Auslandsarbeit sei aber verhältnismäßig gering, zu-
mal derjenige, der es wöllte, auch hier sein Glück finden würde,
so einer der Herren in der Dorfkneipe. Wenig später beobachte
ich einen Wagen mit britischem Kennzeichen, dessen Fahrer
mit einer Dorfbewohnerin – wohl nicht auf Englisch – plauscht.
Demografisch scheint sich das Dorf durch Neuzuzug auch ge-
fangen zu haben, die Zahl der Geburten beträgt jedes Jahr um
die 15 - wie vor der Wendezeit -, wie eine kleine Gedenkstätte
im Dorfzentrum verkündet. Unter den Namen der Neugebore-
nen finden sich auch deutsche, in der Größenordnung von etwa
einem Fünftel, wobei es sich in erster Linie wahrscheinlich um
Mischehen handelt.
So schließt sich der Lebenskreis: Begonnen hat die Reise am
Friedhof und endet stilvoll am „Lebensbaum”. Es bleibt zu hoffen,
dass sich die Zukunft für die verbliebenen Totwaschoner Deut-
schen glücklicher gestaltet als ihr Schicksal in der Vergangen-
heit. Aus historischen Erfahrungen heraus überwiegt aber leider
eher die Skepsis, sprachlich die traurige Gewissheit.
s
Ansichten - Einsichten
mein (ungarn-) deutschtum (31)
Die Leiden des jungen Assimilierten -Gedanken des Corvinus-
Pr ofessors Dr. Zoltán Tefner über eigenen Lebensweg und
Identität
In den Nebel längst vergangener Jahrzehnte ist meine erste Be-
gegnung mit der deutschen Sprache eingehüllt. Ursprünglich
wollte ich Französisch lernen. Das patinierte Ofner Gymnasium,
das legendäre „Toldy”, mit seinem alten Namen das „Budai Fő-
reál”, schien zum ersten Blick ein Labyrinth zu sein. Mindestens
für einen 14-Jährigen, der das lauwarme Nest seiner Kindheit,
Kötsching/Kötcse, verlassen musste. Nicht aus eigener Initiati-
ve. Die Generalsitzung der Großfamilie im März 1963, unter der
Leitung meines mütterlichen Großvaters, Adam Reichert, hat die
Entscheidung getroffen: Er muss nach Stuhlweißenburg weiter
(Fortsetzung auf Seite 26)
SoNNTAGSBLATT
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