Sonntagsblatt 3/2018 | Page 23

in die Tat umgesetzt , und die Minderheiten sahen sich Assimilierungsversuchen ausgesetzt . Ab 1875 wurde unter Ministerpräsident Kálmán Tisza ( 1875 – 1890 ) eine konsequente Magyarisierungspolitik betrieben , um alle Nichtmagyaren in 40 Jahren zu Ungarn zu machen .
Der Ausgleich von 1867 lieferte die Minderheiten nun völlig der Magyarisierungspolitik Budapests aus . Zwischen 1881 und 1901 hatten die Slowaken keine eigenen Abgeordneten im ungarischen Parlament , auch danach waren es im Verhältnis weniger , als ihr Bevölkerungsanteil ausmachte . Versuche Budapests vor und während des Ersten Weltkriegs , dem serbischen und rumänischen , auf Expansion bedachten Nationalismus mit Zugeständnissen entgegenzuwirken , kamen zu spät . Die rigorose Magyarisierungspolitik , die vor allem unter der slowakischen und deutschsprachigen Bevölkerung Transleithaniens Erfolge verzeichnete , ließ den Bevölkerungsanteil der Magyaren auf knapp über die Hälfte anwachsen . Zwischen 1880 und 1910 stieg der Prozentsatz der sich als Magyaren bekennenden Bürger Ungarns ( ohne Kroatien ) von 44,9 auf 54,6 Prozent . Mit Hilfe eines reaktionären Wahlrechts , das nur den privilegierten Teil der Bevölkerung zur Wahl zuließ , 1913 waren nur 7,7 % der Gesamtbevölkerung wahlberechtigt ( oder durften öffentliche Ämter bekleiden ). Eine Pseudo-Reform kurz vor Kriegsende sah ganze 13 % als wahlberechtigt vor . Damit wurde die reaktionäre Struktur des Vielvölkerstaates Ungarn zementiert .
Auswanderung aus Österreich-Ungarn
Zwischen 1876 und 1910 wanderten rund 3,5 Millionen ( andere Zahlen geben bis zu 4 Millionen an ) Einwohner der Doppelmonarchie aus . Sie waren arm und arbeitslos und erhofften sich in einem anderen Land bessere Lebensbedingungen . Etwa 1,8 Millionen Menschen kamen davon aus der cisleithanischen Reichshälfte und etwa 1,7 Millionen aus der transleithanischen Hälfte . Fast drei Millionen von ihnen hatten als Reiseziel die Vereinigten Staaten von Amerika , 358.000 Personen wählten Argentinien als neue Heimat , 158.000 gingen nach Kanada , 64.000 nach Brasilien und 4.000 wanderten nach Australien aus . Der Rest verteilte sich auf andere Länder .
Allein im Jahre 1907 verließen rund eine halbe Million Menschen ihre Heimat . Die Regierungen Österreichs und Ungarns waren besorgt , da sich unter den Auswanderern viele junge arbeitsfähige Männer befanden . 1901 – 1905 wurden allein in Österreich 65.603 Liegenschaften , davon 45.530 kleinere Parzellen , von Auswanderern öffentlich versteigert . Ausgewanderte schrieben an ihre daheim gebliebenen Bekannten und Familienangehörige oft begeistert von „ drüben “ – manchmal waren gleich bezahlte Schiffsfahrkarten beigelegt .
Die wichtigsten Ausgangshäfen für die Auswanderer waren Hamburg und Bremerhaven , wo die Schiffe der großen Reedereien , der Norddeutsche Lloyd und die Hamburg-Amerika-Linie , anlegten . Dauerte eine Schifffahrt nach New York zur Mitte des 19 . Jahrhunderts mit den ersten Dampfschiffen noch rund einen Monat , so betrug die Fahrtzeit um 1900 bei gutem Wetter nur noch eine Woche . Von Triest aus mit der Austro-Americana dauerte eine Reise nur noch 15 Tage . Jährlich führten 32 bis 38 Fahrten in die USA . Die Reisebedingungen waren für die zumeist armen Auswanderer oft miserabel . Für die Reedereien , die am Komfort für die weniger wohlhabenden Passagiere sparten , war das Auswanderergeschäft äußerst lukrativ und daher sehr hart umkämpft .
Die meisten Auswanderer kamen aus Galizien im heutigen Polen und in der Ukraine . Von 1907 bis 1912 waren es 350.000 , wie aus einer Interpellation von polnischen Reichsratsabgeordneten an verschiedene österreichische Minister am 12 . März 1912 hervorging .
SoNNTAGSBLATT
Zwischenkriegszeit
Gemäß den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages trat das Deutsche Reich 1919 größere Gebiete in seinen Ostprovinzen an die neu entstandene Republik Polen ab , etwa die Provinz Posen oder Teile von Westpreußen und Oberschlesien . Auch in diesen Gebieten hatten die Abgrenzung zwischen den ethnischen Gruppen und vor allem die preußische Germanisierungspolitik den deutsch-polnischen Gegensatz verschärft . Dieser führte dazu , dass sich rund 850.000 Deutsche , die sich nun innerhalb der Grenzen des polnischen Staates wiederfanden , bis 1925 für eine Übersiedlung nach Deutschland entschieden . Beim polnischen Zensus von 1931 wurden 741.000 deutsche Muttersprachler gezählt , die Angehörigen der „ deutschen Nationalität “ wurden auf über eine Million Personen geschätzt . Mit 3,3 Millionen ( 1930 ) war die deutsche Minderheit in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei wesentlich stärker . In den neu entstanden Staaten Estland , Lettland und Litauen lebten zusammen etwa 250.000 Deutsche . In Ungarn bekannten sich 1930 rund 477.000 Menschen zur „ deutschen Nationalität “, in Großrumänien waren es 745.000 . Die deutsche Minderheit in Jugoslawien zählte etwa 500.000 Menschen .
Die politischen Vertreter der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa versuchten in der Zwischenkriegszeit deren Lage zu verbessern , unter anderem durch die Gründung eines eigenen europaweiten Interessenverbandes ( Verband der deutschen Volksgruppen Europas ). Dass die deutschen Minderheiten in der politischen Auseinandersetzung mit den Parteien der Mehrheitsgesellschaften oft als Repräsentanten des untergegangenen Habsburgerreiches oder des Kriegsverlierers Deutschland gesehen wurden und zahlreichen Schikanen ausgesetzt waren , stärkte insbesondere in der jüngeren Generation das Gefühl , eine Verbesserung ihrer Lage nur mit der Hilfe Deutschlands erreichen zu können .
Dort hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg die Vorstellung einflussreiche Anhänger gewonnen , bei den deutschen Minderheiten jenseits der Reichsgrenzen handele es sich um „ Auslandsdeutsche “, die nicht nur „ im Erhalt ihres Deutschtums “ unterstützt , sondern auch in den Dienst des Reiches gestellt werden sollten . In diesem Sinne wollte das 1917 in Stuttgart gegründete Deutsche Ausland-Institut die Verbindungen dieser „ Diaspora “ mit der „ alten Heimat “ stärken . Da nach dem Ersten Weltkrieg die Zahl der deutschen Minderheiten im östlichen Europa beträchtlich gestiegen war ( insgesamt auf etwa 8,5 Millionen ), nahm auch in der Weimarer Republik das öffentliche Interesse an den „ Auslandsdeutschen “ zu . Insbesondere Organisationen , die revisionistische Ziele verfolgten , traten für ein Protektionsverhältnis gegenüber den „ Grenzlanddeutschen “ ein , die in Gebieten wohnten , die vor dem Versailler Vertrag zu Deutschland gehört hatten . Die Ausreise dieser Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach Deutschland wurde im Reich durchaus kritisch bewertet , da sich damit die Chancen auf eine Revision der ungeliebten neuen Grenzen verschlechterten .
Diese Tendenzen verstärkten in den ostmittel- und südosteuropäischen Ländern die Ängste der Eliten vor einem Zerfall ihrer multiethnischen Staaten . Wie im Falle Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg führte diese Wahrnehmung zu einer weiteren Einschränkung der politischen Partizipationsmöglichkeiten der Minderheiten . Diese Spirale des gegenseitigen Misstrauens und die Verschlechterung der Lage der deutschen Minderheiten bereiteten einer jüngeren Generation von Politikern in den Reihen der „ Auslandsdeutschen “ den Boden für neue , radikalere Wege . Nach 1933 kam es zu einer engen Vernetzung dieser Politikergeneration mit den nationalsozialistischen Kräften im Reich . Beiden gelang es innerhalb weniger Jahre , die politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa mit Berlin gleichzuschalten und die historisch gewach-
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