Sonntagsblatt 3/2012 | Page 22

später verstehen . Ungarn war ein Wort , das abstrakter für ein Kind nicht sein konnte . Ungarn hätte auf dem Mond liegen können oder sonst wo . Genauso verhielt es sich später mit dem Ort Budaörs oder Wudersch . Beides war nicht wirklich greifbar und verschloss sich meiner kindlichen Fantasie . Also verdrängte ich meine Herkunft , sortierte sie unter „ nicht brauchbar ” in eine Schublade ein und bemühte mich , eine waschechte Deutsche zu sein . Das gelang mir hervorragend . Ich eignete mir schon im Kindergarten die Sprechweise meiner Freunde an und verweigerte mich standhaft , auch nur ein Wort des Dialektes meiner Eltern und meiner älteren Geschwister anzunehmen . Es war mir als Kind peinlich , sie so „ wuderscherisch ” reden zu hören . Ich wollte von diesem Budaörs nichts wissen . Meine beste Freundin war die Tochter eines amerikanischen Offiziers , die in einer von den Amerikanern besetzten Villa wohnte . Ich wäre so gerne ein amerikanisches Kind gewesen , mit einem Kühlschrank in der Küche und Pfannkuchen mit Butter und Zucker , so dick wie meine Finger , denn wir hatten keinen Kühlschrank und unsere Pfannkuchen hießen Palatschinken und waren so dünn wie Papier und nur mit Leckwar ( ein Wort , das weder die amerikanischen noch die deutschen Nachbarskinder kannten ) gefüllt . Als ich mit sechs Jahren zum ersten Mal einen Kinderfasching besuchen durfte und meine Mutter für mich ein Juliska-Kleid nähte , fand ich Ungarn dann doch nicht mehr ganz so schlecht . Ich gewann mit dem Kostüm den 1 . Preis-eine Schachtel Pralinen .
Meine ungarischen Wurzeln
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1954 änderte sich mein deutsch-ungarisches Weltbild schlagartig . Mein Vater war ein begeisterter Fußballanhänger . Fast jeden Sonntag durfte ich ihn nach dem Mittagessen zu einem Spiel begleiten . Das war immer ein Erlebnis für mich . Zum einen traf ich andere Kinder und zum anderen bekam ich immer ein Eis am Stiel . Außerdem hörte ich ganz gerne zu , wenn sich die Männer über Tore , Fouls und Elfmeter unterhielten . Und so erfuhr ich ganz nebenbei , dass es eine Fußball-Weltmeisterschaft gibt und das Endspiel in Bern stattfinden wird . Und da war Ungarn plötzlich wieder ganz nah . Deutschland-Ungarn im Weltmeisterschafts-Endspiel . Alle sprachen davon und mein Vater hatte eine Karte für das Stadion in Bem und nahm an diesem legendären Ereignis als Zuschauer teil . Also lag Ungarn doch nicht auf dem Mond . Wenn Ungarn sogar an einer Weltmeisterschaft teilnehmen konnte und so gut war , gegen Deutschland ins Endspiel zu kommen , konnte Ungarn ja nicht so schlecht sein . Also rückte Ungarn wieder etwas näher an Amerika heran und ich erklärte meinen Freunden und unseren Nachbarn vorsorglich meine Verwandtschaftsverhältnisse zu diesem Land . Vorsorglich , da ich ja nicht wissen konnte wie das Spiel letztendlich ausgehen würde . Als 1956 der ungarische Aufstand blutig niedergeschlagen wurde , meine Eltern in großer Sorge um in Ungarn verbliebener Familienangehöriger waren , spürte ich zum ersten Mal meine Verbundenheit zu der Heimat meiner Eltern . Ich musste in unserer Dreifaltigkeitskirche lü Mark in den Opferstock stecken und dafür jede Menge Kerzen anzünden , lü Mark erschienen mir jedoch für den Beistand der Heiligen etwas zu übertrieben . Ich bestückte den Opferstock mit fünf 1 Mark Münzen und verwahrte den 10 Mark Schein in meiner persönlichen Schatzkiste . Diesen Geldschein wollte ich nach Ungarn schicken . Irgendwann . Dazu kam es aber nicht , weil ich es vergessen hatte . Dafür kam mir aber meine Mutter - lange nach dem Aufstand - auf die Schliche . Der lü Mark Schein war an der Seite markiert und meine Mutter hatte ein unglaublich gutes Gedächtnis für fast Nicht-Sichtbares . Sie glaubte mir nicht , dass ich 5 Mark von meinem Taschengeld in den Opferstock gesteckt hatte und die 10 Mark als Hilfe für Ungarn spenden wollte . An meine Strafe kann ich mich nicht mehr erinnern , wohl aber daran , dass der für mich schon vorher fast unvorstellbare „ Eiserne Vorhang ” noch dicker und noch undurchdringlicher wurde .
Meine Eltern schickten Hilfspakete nach Budaörs . Ähnlich der Pakete , die wir 1950 bis 1952 von Amerika erhalten hatten und die damals unter dem Begriff „ Care-Pakete ” bekannt wurden . Unvorstellbar , dass nur ca . 5 Jahre später , ebensolche Pakete von meinen Eltern in ihre ehemalige Heimat geschickt wurden . Ein Großteil der Kleidungsstücke , die ich einst von Amerika erhalten hatte , nahm nunmehr ihren Weg nach Ungarn . Ich erinnere mich sehr gut daran , weil eines Tages ein Brief mit einem Bild von Budaörs kam , auf welchem meine Cousine Ágnes mit meinem Lieblingsrock zu sehen war . „ Das ist Dein Beitrag um das Leid in Ungarn zu mildem ”, sagte meine Mutter und ich bin mir heute noch ziemlich sicher , dass ich damals bestimmt nicht ihrer Meinung war . Mein Lieblingsrock gegen Panzergewalt ? Allerdings , das muss ich heute zugeben , sah meine Cousine sehr hübsch in meinem Bambi-Reh-Röckchen aus und es passte ihr haargenau , während ich dem Rock schon längst entwachsen war . Aber gedanklich nachhaltig war mein Opfer schon . Und kurz danach stand plötzlich ein waschechter Ungar vor unserer Tür . Mein Cousin Guszti . Er war als „ Aufständiger ” geflüchtet , zuerst nach Belgien und von dort kam er zu uns . Er sprach kein Wort Deutsch , war so dünn wie ein Skelett und hatte immer Hunger . Guszti bemühte sich vergeblich , mir den Zugang zur ungarischen Sprache zu vermitteln . Vielmehr gelang es mir , ihn in kürzester Zeit mit meinem Deutsch bekannt zu machen . Von da an war Ungarn nicht mehr so weit entfernt und meine Eltern schickten Einladungsbriefe an unsere Verwandten nach Ungarn und sie kamen zu uns zu Besuch . Nicht jeder dieser Besuche war für mich die reine Freude . Ich erinnere mich , dass eine Tante meine Eltern unbedingt davon überzeugen wollte , zurück nach Ungarn zu kehren und dort das ehemalige Unternehmen meiner Großmutter väterlicherseits , die Sodawasserfabrik , wieder zu beleben . Das war eine Vorstellung , mit der ich mich zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht anfreunden konnte . Der Rest meiner Familie konnte dies aber auch nicht . Wir waren schon zu sehr in der alten , neuen Heimat verwurzelt . Ungarn war zwar befrachtet mit Heimweh und Erinnerungen , aber eine Option zur Rückkehr gab es nicht . An den Besuch von meinem Onkel „ Pista Bácsi ” erinnere ich mich sehr gerne . Zumindest war er der Einzige , der es geschafft hat , mir nachhaltig einige ungarische Wörter beizubringen . Zwei Sätze sind mir bis heute lebhaft in Erinnerung . A temblomba voltam und a hajdma erös . Was beide Sätze verband war mir schon damals ein Rätsel und dieses hat sich bis heute nicht gelöst . Dennoch habe ich sehr subtil über Paprika , Salonzucker , Salami , Kukuruz , Geschichten von daham , und vielen ungarischen Gerichten langsam eine duplexe Vorstellung von Heimat bekommen .
Als ich elf Jahre alt war , besuchte uns der Cousin meiner Mutter , Dr . Franz Riedl , „ Feribácsi ” und überredete meine Eltern , mich in eine wuderscher Tracht zu stecken und auf dem Schwabenball in Ludwigsburg eines seiner Heimatgedichte vortragen zu lassen . Ob ich damit einverstanden war , weiß ich heute nicht mehr . Es hätte wohl auch nicht sehr viel genützt , wenn ich ein Veto eingelegt hätte . Einer solchen Aufforderung konnte man nicht widersprechen . Ich gab mein Bestes und wurde die jüngste Preisträgerin des Rosmarinstraußes der Neuzeit . Das war damals ein unglaubliches Erlebnis für mich . Diese vielen Trachten , eine schöner als die andere , die Fröhlichkeit der Menschen , die ihre verlorene Heimat zelebrierten , weinten , lachten und tanzten , nahm mich vollkommen gefangen und plötzlich war ich eine von ihnen . Eine Trachtengängerin von Budaörs , ohne jemals Budaörs gesehen zu haben . Ich war sehr stolz auf eine Heimat , die ich nie
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