Sonntagsblatt 2/2024 | Page 34

nicht des Problems : Wenn der Mensch verliebt ist , sich bessere Lebensbedingungen wünscht oder ihm das dörfliche Umfeld nicht gefällt , dann macht er sich auf den Weg . „ Die Mobilität halten wir heute für einen Teil der Gesellschaft , auch deshalb darf man die Migration nicht als Ausnahmesituation auffassen .” Die osteuropäischen Einwanderer von heute wissen bereits , dass sie im Westen gebraucht werden , sie nehmen das Projekt Integration nicht als Gnadenakt wahr .
Die Aufgabe ist schwer , weil die Reaktion auf die Migration selbst in der Willkommenskultur selten positiv ist . Obwohl es Studien gibt , wonach sich die vormaligen Flüchtlinge mehr an der Integration der Neuankömmlinge beteiligen , sind laut Kaschuba die in Deutschland lebenden Migranten alles andere als aufnahmewillig den Neuen gegenüber . Das kann man auch nachvollziehen , „ denn sie können nicht solidarischer sein als die Mehrheitsbevölkerung .”
Erdoğan , der Pandemieexperte
Erfolg und Misserfolg der Integration haben ganz unterschiedliche Aspekte : Der türkische Präsident Erdoğan beispielsweise , wie Kaschuba formulierte , betrachtet die türkische Diaspora in Deutschland als seine Hilfstruppe . Diese recht neue Entwicklung schadet viel der Sache der türkischen Minderheit , aber auch im Hinblick auf überregionale Angelegenheiten ist sie schädlich . Besonders problematisch in Zeiten der Corona-Pandemie ist der Umstand , dass sich Teile der türkischen Diaspora über andere Kanäle informieren als die Bevölkerungsmehrheit - „ und Erdoğan sagt über die weltweite Pandemie etwas ganz anderes als ein deutscher Epidemologe .” Es gibt Gruppen innerhalb der türkischen Minderheit in Deutschland , die nur die erdoğanschen Informationen erreichen , andere wiederum informieren sich über Influencer , so dass sie nur Sport- und Musiknachrichten konsumieren . „ Es sind Parallelgesellschaften entstanden und darüber müssen wir uns Gedanken machen . Im globalisierten Raum kann man Minderheiten so zielgerichtet erreichen , wie es früher nur schwer vorstellbar war .”
Der Soziologiedoktorand Dr . des Özgur Özvatan , stellvertretender Leiter der Abteilungen „ Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik “ und „ Wissenschaftliche Grundfragen zu Integration und Migration “ am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität hat die persönlichen Narrative der Abgeordneten des Bundestages mit Migrationshintergrund untersucht und auf der Konferenz vorgestellt . Narrativ bedeutet in diesem Zusammenhang eher eine Geschichte als eine Interpretation : Die persönlichen Lebensgeschichten der einzelnen Politiker verglich er mit den vier Untergattungen – Romanze , Komödie ,
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Ironie und Tragödie – des kanadischen Literaturwissenschaftlers Northrop Frye .
Die Vielfalt der untersuchten Politikermuster zeigt auch , dass der Migrationshintergrund ein viel komplexerer Sammelbegriff ist , als zum Beispiel das Narrativ der ungarischen öffentlich-rechtlichen Medien darstellen will . Man unterscheidet unter den Abgeordneten drei Gruppen , die sich markant voneinander absondern : die Volksvertreter westeuropäischer , osteuropäischer und muslimischer Herkunft . Nach Untersuchungen von Özvatan ist das Geschlecht noch ein viel größeres Unterscheidungsmerkmal . Was die deutschen politischen Parteien anbelangt stagniert der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund bei der CDU um drei Prozent , bei den Sozialdemokraten beträgt deren Anteil bei langsamem Wachstum gegenwärtig zehn Prozent , bei den Grünen wächst er dynamisch und beträgt jetzt 15 Prozent , in den Reihen der Linke finden sich 19 Prozent . Die rechtsextreme AfD kam zum ersten Mal 2017 in den Bundestag , bei ihnen beträgt der Anteil der Politiker mit Migrationshintergrund 8,7 Prozent , aber keiner von ihnen ist Muslim .
Bei den unterschiedlichen Untergattungen der Politikernarrative hat der Forscher herausgefunden , wie weit die Komplexität der Gesellschaft abgebildet wird und inwiefern der Held , der nach Lösungen sucht , neue Perspektiven mit einbezieht ( in den Romanzen und Komödien am wenigsten ) beziehungsweise inwiefern ein Lernprozess zu beobachten ist ( in der Tragödie und Ironie eher als in den beiden anderen ). Während der Forschungsarbeit hat er dann die charakteristischen Vertreter der einzelnen Narrative identifiziert .
Özvatan kam zum Schluss , dass in der Gattung „ Romanze ”, die man am ehesten mit Selbstzufriedenheit verbinden kann , die männlichen Politiker westeuropäischer Herkunft vertreten sind : Ihren Migrationshintergrund betonen sie nur dann , wenn es von strategischer Bedeutung ist . Zu ihnen gehört der CDU-Abgeordnete Kai Whittaker , der britischer Herkunft ist . Die Komödie ist das Narrativ der osteuropäischen oder aus Osteuropa stammenden Politiker . Sie mögen die Rolle , in ihr Herkunftsland Demokratie zu exportieren . Sie sind „ von unten “ gekommen und berichten von schwierigen Migrationserfahrungen . Zu ihnen gehört wohl der SPD-Abgeordnete Josip Juratović , der sich als Automechatroniker vom Fließband zur Politik hochgearbeitet hat . Die Tragödie ist am ehesten das Narrativ der muslimischen Politikerin : Stete Behinderung und Kampf sowie die ununterbrochene Suche nach Lösungen bestimmen ihre Karriere . Deswegen muss sie stets ihre Kompetenz unter Beweis stellen und schafft es nicht , ihr zugeschriebenes Muslimtum abzulegen . Sie erkennt ein gewisses Spannungsfeld zwischen dem importierten Illiberalismus
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