Sonntagsblatt 2/2024 | Page 33

SONNTAGSBLATT UND WISSENSCHAFT

DIE MIGRATION IST SO WIE DAS

CORONAVIRUS :

Man muss mit ihr etwas anfangen , aber es reicht nicht aus , sich auf das Gutmenschentum zu berufen
Erstmalig erschienen am 20 . November 2020 auf dem Wissenschaftsportal qubit . hu des linksliberalen Nachrichtenunternehmens Magyar Jeti Zrt ., Herausgeber des Portals 444 . hu . Zweitveröffentlichung in deutscher Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Autorin Johanna Rácz - deutsche Übersetzung : Richard Guth
SoNNTAGSBLATT
Teil 3
Wo ist der Ursprung des bedrohlichen Migranten zu suchen ?
Laut Kaschuba gerieten seine vertriebenen Eltern als deutsche Einwanderer in Deutschland in ein längst überholtes Migrationsnarrativ bäuerlichen Ursprungs . Die Beweggründe der Annäherung an die Sache , die auf einer dörflichen Struktur von vor 200 Jahren fußen , sind aus anthropologischer Sicht völlig verständlich : Die wichtigste Ressource der Gesellschaft - der Boden - war begrenzt , deswegen sollte man die Fremden fernhalten . Im 19 . Jahrhundert erhielt der Migrationsdiskurs schon eine nationalistische Note . Theoretisch homogene Nationalstaaten bekämpften sich , die Zugehörigkeit trat in den Mittelpunkt und dies erschien als gottgegeben . Die nationalistischen Systeme bauten sich auf dieses Eigen-Fremd auf und dieses Narrativ , das geordnete Verhältnisse suggerierte , schuf das Bild des bedrohlichen Migranten .
Kaschuba gab seinem Vortrag den Titel : „ Migration ist die Mutter aller Gesellschaften !”, was eine Antithese zu den Worten des deutschen Innenministers Horst Seehofer darstellt , der meinte , dass „ Migration die Mutter aller Probleme ist ”. Der Professor , wie er sagte , musste an der Stelle widersprechen , denn er empfand die Aussage Seehofers als falsch und unhistorisch , da sie an vergangene Migrationsnarrative erinnerte . Kaschuba argumentierte so , dass die historischen Erfahrungen gerade der letzten 50 Jahre die Migration als Lösung des Problems erscheinen ließen : Im 19 . Jahrhundert wanderten sechs Millionen Deutsche nach Amerika aus und ließen die Wirtschaft aufblühen , Massen zogen aus Polen ins Ruhrgebiet , um die Schwerindustrie aufzubauen , und heute werden ganze Krankenhausabteilungen von polnischen Ärzten und Pflegern betrieben .
Hinsichtlich der Migrationsnarrative besteht ein großes Gefälle zwischen Stadt und Land . Es ist kein Zufall , dass die Theoretiker der Gesellschaftswissenschaften von Weber bis Durkheim die Städte als „ Ort der Zusammengezogenen ” beschreiben . Wenige bedenken , dass der überwältigende Teil der Migration auf unserem Kontinent die europäische Binnenmigration ausmacht : Vom Dorf in die Stadt , von Ost nach West , vom Süden in den Norden wanderten in den letzten zehn Jahren Millionen von jungen Menschen - meist Talentierte und Kreative . „ Die Zuwanderung in die freie Welt , die die Städte darstellen , ist im vollen Gange ”, sagte Kaschuba , und brachte das Beispiel von Berlin . Diese Abwanderung ist nach seiner Auffassung ein großer Aderlass für die Provinz und bringe eine weitere Konservierung von ihr mit sich , was man am Beispiel des amerikanischen Midwests oder Polens erkennen kann . Aber auch in Ungarn fehlt es nach seiner Ansicht in den ländlichen Regionen am kritischen und kreativen Potenzial .
Kaschuba erkannte aufgrund biografischer Konnotationen traurig an , dass die Flüchtlingskrise , die 2015 ihren Anfang genommen hat , die alten Migrationsnarrative verstärkt hat : Die Person des Migranten wurde immer als gefährlich eingestuft und zur persona non grata erklärt . Ungarn war nicht das einzige Land , wo die Reaktion „ Wir müssen die Festung Europa verteidigen ” die fundamentale Reaktion der Politik war , obwohl die Einwanderung eine Win-Win-Situation für die Aufnahmeländer und die Ankömmlinge gleichermaßen bringen könnte . Hier könnte man ein neues Migrationsnarrativ entwickeln , um eine zukunftsorientierte Migrationspolitik betreiben zu können . Nach Kaschubas Ansicht müsste man drei Grundsätze beachten : Man sollte in die Finanzierung herkunftslandnaher Flüchtlingslager einsteigen , damit derjenige , der in der Nähe seiner Heimat bleiben will , es auch tun kann . Man sollte den Prozess der Integration beschleunigen und die Einwanderer rascher an Sprache und Arbeitsplätze heranführen . Man soll außerdem nicht vergessen , dass den Großteil der Migration die Mobilität innerhalb Europas ausmacht .
Nach Einschätzung von Kaschuba wäre eine neue Annäherung jenseits der Politiker , die für die Vergangenheit stehen , vonnöten . Das würde die Botschaft vermitteln , dass es völlig normal ist , dass wir ein- und auswandern . Darüber hinaus sollte man in der Darstellung der Migration die Stereotypen überwinden : Man benötige hierzu neue Metaphern , Bilder , Ikonografie und neues Wissen anstelle der alten : Man müsste auch betonen , dass die Migration heute eher das Ergebnis individueller Entscheidungen ist und nicht von großen , gruppendynamischen Bewegungen wie in der Geschichte so oft . Aus dieser Sicht ist Migration auch auf der individuellen Ebene Teil der Lösung und
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