Sonntagsblatt 2/2024 | Page 28

Moldau beginnt . „ Ohne Aufklärungskampagne aus Ungarn und dem Seklerland wäre ich heute nicht hier . Mir wurden die Augen geöffnet , als beispielsweise ein madjarischer Priester zu uns kam , um den Tschangokindern Ungarischunterricht zu geben ”, erinnert sich der 44-Jährige . Mit 12 Jahren ging er nach Seklerburg / Miercurea Ciuc / Csíkszereda , um mit seinem Bruder eine ungarischsprachige Schule zu besuchen . Der Schulbesuch wurde nach Polgárs Erinnerungen aus Fördergeldern finanziert . Gerne erinnert sich Polgár an die hilfsbereiten Lehrerinnen und Lehrer , die den Jungs „ mit schwachen Ungarischkenntnissen ” unter die Arme griffen , allen voran Schulleiterin Erzsébet Borbáth . Die mangelnden Ungarischkenntnisse haben zudem zu Hänseleien geführt : „ Die Sekler haben uns nicht geschont ”, sagt Polgár . Nicht bei jedem stieß der Schulbesuch in der Moldau wiederum auf Gegenliebe , „ es gab eine regelrechte Gegenpropaganda . Meinen Eltern sagte man , sie hätten ihre Kinder verkauft ” - etwas , was auf die tiefreligiösen tschangomadjarischen Eltern durchaus Eindruck machte . Auch wenn die Eltern zu Hause ein archaisches Ungarisch sprachen , sei die Sprache zweitrangig und identitätsstiftend der katholische Glaube gewesen . Nationalität war zwar kein Thema , dennoch habe man wahrgenommen , dass „ wir anders sind ”.
Seit der Jahrtausendwende gebe es mit Unterstützung vom ungarischen Staat erstmal flächendeckend Ungarischunterricht in den Tschangodörfern . Damals sei das im häuslichen Rahmen geschehen , heute würden in etwa 30 Orten an die 2000 Kinder - 60-70 % der Tschangokinder - am schulischen Ungarischsprachunterricht teilnehmen , wodurch sich die Kenntnis des Hochungarischen verbreitet habe . Dies habe einen Einfluss
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auf das Identitätsbewusstsein , das größer sei als vorher , dennoch beobachte man einen Rückgang der Ungarischkenntnisse in der Bevölkerung . Das Tschangomadjarische verfüge über viele Lehnwörter aus dem Rumänischen und sei eine archaische Form des Ungarischen , da es keine Spracherneuerung wie das Hochungarische erfahren habe . Diese Entwicklung seit der Wendezeit habe dazu geführt , dass es viele Tschangos gebe , die zwar kein Ungarisch sprechen , dennoch stolze Tschangos seien und auch die ungarische Staatsangehörigkeit annähmen . Bei der sprachlichen Assimilierung habe der katholische Klerus - früher fast ausnahmslos tschangomadjarischer Herkunft - eine enorme Bedeutung gespielt , der Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg aber habe über die Romanisierung geführt , was bei vielen ein „ Identitätschaos ” ausgelöst habe . Zudem habe man früher vor der Wende Diskriminierung erfahren müssen : Beim Anstehen zum Brotkauf habe man zuerst die Rumänen bedient . Aber die Zeiten hätten sich geändert , viele der ehemaligen Tagelöhner verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland , mit ein Grund , dass die alte Heimat für Polgár das Bild einer Boomregion mit Autobahnbauprojekten , Industrialisierung und Suburbanisierung abgebe .
Róbert Polgár verließ 1997 Rumänien und nach Stationen in Wesprim und Rom kam er 2007 nach Murakeresztúr an der kroatischen Grenze . Murski Krstur war lange ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt , was bis heute Menschen anziehe , so Polgár . Er schätzt den Anteil der „ bekennenden Kroaten ” auf etwa ein Drittel . Den Dialekt sprächen nur noch ältere Leute , in der Schule finde Kroatischunterricht statt . Einige der Jugendlichen nähmen ihre Herkunft und das sprachliche Erbe ernst und be-
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