Sonntagsblatt 2/2024 | Page 26

zum Ende des ersten Jahres habe ich es geschafft aufzuholen . Die Gymnasialzeit war entscheidend für mein Leben . Hier bildete sich meine Identität heraus , hier wurde mir meine Zugehörigkeit klar . Ich habe noch viele Bekannte aus dieser Zeit , die in deutschsprachigen Siedlungen überall im Land leben . Ich habe in Baaja ein Deutschlehrerdiplom für die Unterstufe ( Primarstufe , Red .) erworben und dann in einer ungeteilten Klasse an meiner ehemaligen Schule in Berkina angefangen zu unterrichten . Nach meiner Heirat zogen wir ins Nachbardorf Sende . Ab 1990 unterrichtete ich hier in der Grundschule zunächst in der Unterstufe , dann erlangte ich einen Abschluss als Sprachlehrerin an der ELTE und unterrichtete das Fach Deutsch . Von 2009 bis zu meiner Pensionierung war ich Schulleiterin der Deutschen Nationalitätengrundschule Sende . Ich habe zwei Töchter und bin eine glückliche Omi von zwei Enkelkindern .
SB : Seit kurzem sind Sie pensioniert – wie gestaltet sich Ihr ( Un- ) Ruhestand ?
MGG : Während meiner Arbeit hatte ich oft Probleme damit , die Zeit zwischen Arbeit und Familie aufzuteilen . Jetzt steht natürlich die Familie im Vordergrund , ich verbringe viel Zeit mit meinem Enkel . Es ist auch kein Problem mehr , meine im Ausland lebende Tochter mit Enkelin öfters besuchen zu können . Mir gefällt , dass ich viel mehr Zeit für meinen Garten und meinen Haushalt habe . Aus familiären Gründen habe ich vor kurzem angefangen , Italienisch zu lernen , ich hoffe , dass ich dadurch auch meine geistige Frische im Zaum halten kann . Ich bin sehr gern in der Natur . Es wäre schön , wenn wir uns noch lange Zeit dem Wandern widmen könnten , was mit meinem Mann eine meiner liebsten Freizeitbeschäftigungen ist .
SB : Ihre berufliche Laufbahn begann Anfang der 1980er Jahre – inwiefern hat sich die pädagogische Arbeit in all den Jahren verändert ?
MGG : Im Laufe der vier Jahrzehnte erfuhren das Schulumfeld , die Schüler , die Methoden und die Bildungspolitik unzählige Veränderungen , die von den Akteuren des Schullebens eine ständige Anpassung erforderten . Leider gehen heute immer mehr Kinder zur Schule , die das Lernen als Zwang erleben . Sie haben keine emotionale Bindung zur Schule , der Wunsch nach Wissen ist für sie ein unbekanntes Konzept , sie sind unmotiviert , sie erleben täglich Misserfolge und sie haben keine festen Lerngewohnheiten .
In den 80er Jahren waren Schulbücher und Kreide die grundlegenden Lehrmittel , aber es bedarf heute viel mehr , um die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen und aufrechtzuerhalten . Habe ich anfangs zu Hause viele Wortkarten , Plakate usw . zur Veranschaulichung angefertigt , gezeichnet , ausgeschnitten und gemalt – so habe ich in den letzten Jahren bei der Vorbereitung auf den Unterricht mehr Zeit damit verbracht , im Internet zu recherchieren , Apps auszuprobieren und anzupassen .
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Im Laufe der Jahre wurde es notwendig , auch neue Lernverfahren einzuführen . Beispielsweise führten wir statt des früher fast ausschließlichen Frontalunterrichts immer häufiger Projekttage und Klassenprojekte durch , mit denen wir versuchten , die Motivation der Schüler zu steigern . Neuheit ist für die Kinder von heute wichtig - etwas anderes , als die Alltagsroutine . Ein weiterer wichtiger Vorteil ist , dass die Kinder an der Arbeit aktiv teilnehmen .
Ich finde , eine der schwierigsten Aufgaben der heutigen Pädagogen besteht darin , die Schüler zum selbstständigen Lernen zu erziehen . In der heutigen Welt sind sie es gewohnt , vieles vorgefertigt zu bekommen , müssen sich das Wissen aber selbst erkämpfen .
SB : Welche Erinnerungen haben Sie an Sende der 60er , 70er Jahre , insbesondere was den Alltag , den Sprachgebrauch und die lokale Identität der Dorfbewohner angeht ?
MGG : In den 60er Jahren verbrachte ich meine Kindheit in Berkina , einem kleinen schwäbischen Dorf mit 500 Einwohnern , das bis 1990 verwaltungsmäßig zu einem slowakischen Dorf , Novohrad / Nógrád , gehörte . Hier wurden die Entscheidungen zur Dorfentwicklung getroffen - natürlich meist zugunsten der größeren Siedlung . Berkina war ein rückständiges , kleines Sackdorf mit einer zusammenhaltenden , gottesfürchtigen Bevölkerung . Die Männer fuhren zum Arbeiten meist nach Waitzen oder Budapest , für die Frauen bot eine von Budapest ins Dorf ausgelagerte Fabrik Arbeitsmöglichkeiten . Wir lebten mit meinen Großeltern väterlicherseits zusammen und ich verbrachte viel Zeit mit ihnen . Mein Großvater war Schuster , deshalb besuchten ihn viele Leute . Während man auf die Reparatur wartete , diskutierten sie die Nachrichten . Meist wurde schwäbisch gesprochen . Sie sprachen untereinander und mit meinen Eltern oft in ihrer Muttersprache , aber leider strebten sie nicht danach , uns Kindern diese beizubringen . Im Gegensatz dazu sprach mein Mann in Sende bis zu seinem dritten Lebensjahr nur Schwäbisch , erst im Kindergarten lernte er Ungarisch . Über unsere Herkunft wurde in der Familie nicht viel gesprochen . Es gab keinen Deutschunterricht , nur in der Oberstufe wurde versuchsweise ein Deutschkurs gestartet , wo wir ein paar Wörter lernen konnten . Die Geschichte und Kultur der Ungarndeutschen und die Muttersprache meiner Eltern habe ich am Kossuth-Gymnasium kennen gelernt , wo ich auch meine Identität gefunden habe .
Die finanzielle Lage der Familien hat sich deutlich verbessert , als in den 70er Jahren viele mit dem Anbau von Himbeeren angefangen haben . Die Himbeerernte war zwar nicht meine Lieblingsbeschäftigung , aber mir gefiel , dass die Familie dabei zusammen war und viele lustige Kindheitserlebnisse sind damit verbunden .
SB : Sende liegt im „ Speckgürtel ” von Waitzen und macht einen sehr aufgeräumten Eindruck – ich gehe davon aus , dass das Leute von nah und fern anzieht – falls ja , welche Veränderungen gab es in der Bevölkerungsstruktur in den letzten Jahren , Jahrzehnten ?
MGG : In Sende , das Anfang der 90er Jahre von dem Nachbardorf unabhängig wurde , begann der Ausbau der Infrastruktur langsam , aber heutzutage ist die Gemeinde ein moderner , lebenswerter Ort .
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