Sonntagsblatt 2/2024 | Page 14

“ Tja , wenn du ein kleines Kind unter sieben Jahren hattest , wurdest du nicht mitgeschleppt .“
“ Dein Opa Johannes Rauh war damals vier Jahre alt und bekam einen kleinen Bruder . Als die Frauen vor dem Komitee erschienen , mussten sie ihr Kind auch zeigen . Mit ihrem kleinen Baby stand deine Uroma Veronika Kurz vor den Russen und blieb von der Malenkij Robot verschont . Sie hatte aber zwei Schwestern , die noch keine Kinder hatten und sie erschienen mit dem gleichen Baby vor dem Komitee - das eigentlich ihr Neffe war - mit der Hoffnung , dass sie dadurch in Pari bleiben können . Leider wurde dieser Trick verraten und sie mussten auch nach Russland , aber dank sei Gott , kamen sie nach Hause . Aber die Tante Barbara Rauh von deinem Opa blieb in der fernen Sowjetunion . Sie war 26 Jahre alt , bildhübsch , aber unverheiratet . Leider musste sie gehen und kam nie wieder zurück .”
“ Oh , die Arme . Bestimmt hat ihre Familie auf sie gewartet . Aber du hast vorhin gesagt , dass viele Zurückgebliebene bereits ausgesiedelt waren . Das verstehe ich nicht ganz . Uroma , ist jemand zu euch gekommen und hat befohlen , dass ihr euer Haus verlassen müsst ?”
“ Ja , ganz genau . Am 03 . Juni 1947 um 7:30 Uhr kam eine Person vom Aussiedlungskomitee bei uns vorbei und überreichte uns den Befehl , das Haus bis 9:00 Uhr zu verlassen und die Schlüssel zu überreichen . Deine Oma war erst eine Woche alt und ich lag im Wochenbett . Wir hatten danach keine Rechte an unserem Haus . Wir waren mit diesem Schritt enteignet . Wir durften 5 Kilo Mehl , 5 Kilo Schmalz , etwas Fleisch und 10 Kilo Kartoffeln , etwas Bekleidung und Arbeitsgeräte mitnehmen . Es konnten nur wenige bei Verwandten unterkommen , die ihre Häuser noch nicht verlassen mussten . So sind wir mit deiner Oma , bei unseren Nachbarn unterkommen . In unser Haus kamen inländische Umsiedler . Der Vorsitzende der damaligen ungarischen Bauernpartei sagte zur Vertreibung : „ Die Schwaben sind mit einem Bündel gekommen und mit einem Bündel sollen sie gehen .“
“ Aber , vielleicht ist es eine blöde Frage , weswegen kommen immer Verwandte aus Deutschland zu uns ? Haben sie auch früher in Pari gewohnt ?”
“ Ja , sie haben hier gewohnt , aber durch den Vertreibungsbefehl mussten sie das Dorf verlassen und nach Deutschland ziehen .”
“ Aber , wie war das ? Mussten alle das eigene Haus verlassen ?”
“ Nein , nur die wohlhabenden Ungarndeutschen mussten ihre Häuser verlassen , deswegen blieb dein Opa Johannes Rauh in Pari . Die Familie von deinem Opa lebte in ärmlichen Verhältnissen und konnte in ihrem Haus bleiben .”
“ Wie ging es dann weiter , was ist mit den Verbleibenden geschehen ? Sie lebten doch bei Verwandten . Blieben sie auch immer da ?”
“ Nein , sie blieben ungefähr noch ein Jahr in Pari und in ihre Häuser zogen ungarische Familien aus dem ehemaligen Oberungarn und aus Siebenbürgen . Wir wohnten damals nicht mehr in Pari , da wir in Tamási eine Unterkunft finden konnten . Aber im Frühling 1948 kamen Leute ins Dorf und nahmen die Ungarndeutschen mit . Sie sind mit einer Truhe in die Ferne gezogen . Sie wussten nichts , wohin die Reise gehen soll . Eins war sicher , sie mussten gehen …”
“ Was haben unsere Verwandten darüber erzählt ?”
Auf dem Bahnhof in Nagykónyi wurden alle im April 1948 in Viehwaggons eingepfercht und keiner wusste , wohin es geht , ob nach Russland oder Deutschland , was es schon nicht mehr gab . Nach tagelanger Fahrt kamen die Ausgesiedelten in Pirna / Sachsen an und wurden dort in ein Lager gebracht , erfasst , untersucht und später in ganz Sachsen verteilt . Zu dieser Zeit kamen ja noch viele Tausende andere Vertriebene in die damalige Ostzone . Manche sind dann noch nach Westdeutschland zu Verwandten gegangen oder sogar ins Ausland aufgebrochen . Verwandte von uns haben sogar in Kanada eine neue Heimat gefunden .
“ Aber unsere Verwandten leben doch in Baden- Württemberg . Wie konnten sie dorthin ziehen ? Es gab doch Ost- , und Westdeutschland .”
“ Ja , meine Liebe , es war damals überhaupt nicht einfach in Ostdeutschland . Unsere Verwandten hatten nicht genug zum Essen . Mein Onkel soll immer hungrig ins Bett gegangen sein , da das Abendessen nie ausreichte . Mit der Hoffnung , dass man ein besseres Leben in Westdeutschland aufbauen könnte , wagten einige den Schritt dorthin zu fliehen . Es gab einen Fluss an der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland , der zwar von Grenzsoldaten kontrolliert wurde , jedoch gelang einigen die Flucht mitten in der Nacht . Deine Ururgroßeltern blieben noch länger in Ostdeutschland . Nur jahrelang später konnten sie in den Westen flüchten . Es war auch abenteuerlich . Sie warteten in einem Försterhaus an der Grenze , um dort abgeholt zu werden . Aber es kam niemand . Nur ein Soldat betrat das Haus und fragte nach dem Grund ihres Aufenthaltes . Deine Ururgroßeltern leugneten nicht , dass sie in den Westen zu Verwandten gehen wollen . Der Grenzsoldat hätte sie auch erschießen können , aber stattdessen zeigte er seine Menschlichkeit und zeigte ihnen den Weg nach Westdeutschland und schoss in die Luft . Meine Schwiegereltern kamen dann nach Baden-Württemberg , wo wir vor 300 Jahren auch lebten .”
“ Aber unsere anderen Verwandten leben in Berlin und Burgstädt . Wie war es für sie damals ? Hatten sie schon dort eine Arbeit oder ein Haus zum Wohnen ?“
“ Einige von ihnen kamen auch auf Umwegen nach Burgstädt , wo sie nach vielen schwierigen Unterbringungen endlich wieder Fuß fassen konnten und für ihre Familien eine neue Existenz aufbauen konnten . Willkommen waren sie nicht gerade , denn hier mussten die Menschen auch enger zusammenrücken , denn Mangel an Wohnräumen herrschte in den Nachkriegsjahren überall . Die hiesige Bevölkerung war erstaunt über die eigen-
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