Sonntagsblatt 2/2024 | Page 11

Um dies zu verhindern , wäre es wichtig , Strukturen auszuwählen , an denen man festhalten will . Sie nehmen dann eigene Charakterzüge an und machen sie aus . So bleibt man in seiner eigenen Prägung erhalten , aber auch in der Welt nicht fremd . Erhalten geblieben sind die Deutschen in Ungarn in diesem Land bislang trotz mehrerer schicksalhafter Einwirkungen von außen während der gemeinsamen Geschichte . Zwar in stets abnehmender Zahl , durch die Möglichkeiten dezimiert , aber nach wie vor kann man davon noch nicht sprechen , dass wir uns als bewusstseinsprägende Idee aus unseren eigenen Augen hier gänzlich verloren hätten .
Man muss diese Erscheinung sehr positiv sehen , denn es könnte noch viel mehr anders sein . Ich persönlich nehme um mich noch immer eine Basis im breiten Kreis wahr , die es sichern kann , noch in der Ferne kommender Generationen Zeichen der Existenz von uns aufzuweisen .
Eines ist jedenfalls unerlässlich , nämlich , dass man sich in der Reihe einer Kontinuität sieht , der man nicht abschwört und sich distanziert . Denn dies ist die größte Frage der Identität , ob man eines Tages nicht das Interesse dafür verliert , seiner Gemeinschaft zuzugehören .
Selbst wenn man bereits alleine ist , sieht man sich aber in seiner Abstammung . So wird man vielleicht der letzte Mohikaner sein , aber man ist verankert mit- und in seinen Ahnen . Dann existiert in einem selbst jene Gruppe , der man angehört , vollständig . Man wird nämlich nicht alleine über sich selbst Auskunft erteilen können , sondern repräsentiert bis zum Schluss seine ganze Volksgruppe in seiner Person .
Dies ist vielleicht eine als romantisch erscheinende Anschauung , aber sie stellt die reale Szene vom ehrbaren Aussterben dar . Eine einzige , letzte Person kann zum gegebenen Augenblick als Vertreter seines ganzen Volkes in Erscheinung treten – als der letzte Erbe .
Natürlich stehe es mir sehr fern , uns Deutsche in Ungarn in einer solchen Perspektive zu sehen . Jedenfalls gibt es das Verschwinden auch mit viel weniger Pathos . Das sind die kulturelle Verödung , die freiwillige Aufgabe eigener Merkmale und die Existenz als Schein nur im eigenen Interesse . In diesem Fall bleibt zwar der genetische Abdruck in einem Siedlungsgebiet nachweislich hinterlassen , sonst sucht man aber bereits vergeblich nach dem Lebensmerkmal der einst vorherrschenden Sprache und Kultur .
Behält man sich selbst im Auge , so muss man zum Ergebnis gelangen , dass es niemals egal gewesen ist , wo man herkommt und wer die Ahnen gewesen sind . Letzten Endes muss man sich ja selber vor sich selbst und vor allen anderen zu erklären wissen . Macht man sich seiner Ahnenkette fremd ,
SoNNTAGSBLATT so entbindet man sich zu einer orientierungslosen Gestalt , die gesinnungslos in der Welt herumtreibt . Man nimmt sich jene Chance selber , als Vertreter der Gruppe seiner Abstammung in Erscheinung zu treten .
Spricht man sich seine Herkunft ab , trachtet man danach , sich anderen Merkmalen zuzuschreiben . Es braucht Zeit , bis man sich eingliedert – bis man endgültig angenommen wird . Wie lange das dauert ? Man sollte hierzulande die Kumanen oder die Jazygen fragen . Die Frage lässt sich nicht auf einem Zeitstrahl beantworten und kennzeichnen . Jedenfalls können dabei Jahrhunderte vergehen . Wird eine ganze Gesellschaft entwurzelt , treibt sie kultur- und geschichtslos vor sich hin – dann kann es vielleicht schneller gehen . In diesem Fall hat man ja nichts mit sich zu bringen . Man kann getrost ohne jegliche Merkmale von sich selbst sein - von denen , die einen selbst ausmachen , ja auszeichnen sollten . Denn von Zeit zu Zeit reicht es in der Geschichte aus , sich durch Vermögen alleine hervorzutun - es reicht als Merkmal in aller Welt . Wenn Reichtum globalisiert , so ist das Sein als Mensch mitsamt seiner althergebrachten Kultur zweitrangig – beziehungsweise zählt diese gar nicht . Dies sind entufernde Zeiten , die Menschen , Volksgruppen und ganze Völker mit sich tragen , um sie einzuschmelzen , als wären sie nie da gewesen .
Die Merkmale seiner spezifischen Existenz , seine Daseinsform , seine Sprache und seine Kultur – wie man diese zur Schau trägt , selber lebt , wie man sich nach ihnen definiert , sind Fragen seines Seins . Sie tragen kaum zum Budget , zur Seite des Wohlhabens bei . Bei ausreichender Routine verkauft sich aber schließlich alles für eine Anzahl an Silberlingen .
Eigentlich sollte das Den-Einen-Auszeichnende jedes Geld wert sein , um sich nicht im Morast des Augenblicks zu verlieren . Man denkt zwar für Ewigkeiten , man bleibt aber ein Wesen begrenzter Zeit . Dieses Wesen verschwindet für immer , falls es nicht von dem Fundament seines Daseins , von seiner vererbten Tradition , von seiner Sprache und Kultur all seinen Nachkommen ein gebührendes und frei verfügbares Erbe hinterlässt . Von außen her soll man jedenfalls nicht einmal auf ein Zeichen warten , das uns für heute oder für eine Zukunft bewahrt . Denn in der Frage des persönlichen Fortbestehens wie auch des Fortbestehens als Volksgruppe muss man sich auf den eigenen Willen verlassen . Das ist unsere Identität .
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