Sonntagsblatt 2/2023 | Page 32

MIT ZEITZEUGEN IM GESPRÄCH ( 2 )

Klara Wagner ( 79 ) aus Ratzkoslar / Raab
Von Richard Guth tagte . Damals wohnte im Haus des Großvaters neben anderen Familienmitgliedern ein Flüchtling aus Jugoslawien – Klaras Familie wohnte in der Kantorwohnung . Wagner vermutet , dass die Familie deswegen nicht vertrieben wurde , weil der Großvater Bäcker war und der Vater , der 1945 seinen Namen in Várszegi änderte ( gut zehn Jahre nach der Namensänderung des Bruders , der nur so Notar sein durfte ) den Lehrberuf ausübte . Großvater und Vater verband aber bei allen Unterschieden auch noch etwas anderes : „ Großvater und Vater lernten erst in Bonnhard mit 10 Jahren Ungarisch .”
Zeitzeugin Klara Wagner mit ihrer Mutter
Alles begann mit einem Like ( Gefällt mir ) auf Facebook . Frau Wagner gefiel mein kritischer Kommentar bezüglich des Sprachgebrauchs in der Öffentlichkeit und mir gefiel es eine Gleichgesinnte gefunden zu haben . Der Rest lief wie am Schnürchen : Nachricht im Messenger , Termin vereinbart , Gespräch im Messenger durchgeführt - denn uns trennten in dem Moment gut 800 km .
Klara Wagner , Jg . 1943 , leitete lange Wirtschaftsabteilungen und wechselte dann als Selbstständige in die Gastronomie . Die 79-Jährige stammt aus der Branau , aus dem Dorf Ratzkoslar / Egyházaskozár , wohnt aber seit 1962 nicht mehr dort . Wenn sie ihr Heimatdorf besucht , müsse sie trotz ausgedehnter Verwandtschaft Ausschau nach einer Unterkunft halten . Ihr anderthalb Jahre älterer Bruder , Julius Wagner , brachte sie auf die Idee , sich mit der Familiengeschichte und der Geschichte des Heimatdorfes zu beschäftigen . Eine weitere Stütze bedeutete ihre Bekanntschaft mit Anton Tressl . Ihr profundes Wissen zeigte sich auch im Laufe des Gesprächs , dennoch ist sie gleichzeitig mit fast acht Jahrzehnten eine Zeitzeugin , die wertvolle Erinnerungen an die früheren Jahrzehnte besitzt .
Klara Wagner hat zudem mehrere Fotobücher über die Familie angefertigt : Das erste „ Wagner-Buch ” ist den Ahnen gewidmet , darauf folgten die Bücher „ Wagner 2 und 3 ”. „ Ein Urahn wurde 1782 in Wikal / Bikal eingetragen , da er dort eine Ehe geschlossen hatte . Damals wurden Geburten , Eheschließungen und Todesfälle der evangelischen Ratzkoslarer in den katholischen Kirchenbüchern von Wikal eingetragen . „ Bis zur Generation meines Großvaters waren die Wagners eine Bäckerfamilie , sie beschäftigten sich daneben aber auch mit Weinbau . Mein Großvater zum Beispiel verfügte über 26 Joch Besitz , besaß vier Pferde und galt als Kulake . Er verlor alles : den Bodenbesitz , das Weingut , landwirtschaftliche Geräte , die Tiere und musste die Ernte abliefern . Um die Requirierungsanforderungen des kommunistischen Regimes zu erfüllen , musste mein Vater Getreide zukaufen . Wir lebten sehr bescheiden , beispielsweise tauschten wir Kleidungsstücke gegen Zucker und Mehl ein ”, gewährt Klara Wagner einen Einblick in die Geschichte der evangelischen Familie .
Besonders die ersten Nachkriegsjahre bedeuteten für die Familie eine Zäsur : Von den 1200 Ratzkoslarer Deutschen wurden nach Wagners Angaben 900 vertrieben , „ vornehmlich sind die Armen ” geblieben . Eine Ausnahme soll dabei die wohlhabende Wagner-Familie gebildet haben , in deren Haus die Vertreibungskommission
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Der Werdegang des Vaters von Klara Wagner war dennoch ein Novum in der Familie : Er wurde Kantorlehrer und unterrichtete zusammen mit drei anderen Lehrern 300 Grundschulkinder . Nach Wagners Angaben war in der evangelischen Elementarschule die Unterrichtssprache Deutsch , lediglich in einigen Stunden lernten die Kinder die Staatssprache , die aber keinen großen Einfluss auf die Sprachpraxis im Dorf gehabt habe : „ Auch noch die Generation meiner Mutter , sie war Jahrgang 1924 , sprach gebrochen Ungarisch – in meiner Jugend sprachen junge Frauen in ihren 30ern , 40ern vornehmlich Mundart . Eine interessante Episode : Meine Eltern haben 1962 in Fonyód am Plattensee ein kleines Häuschen gekauft . Jeden Sommer arbeitete sie dort , weil sie ja gut Deutsch konnte . Das rief auch die Staatssicherheit auf den Plan : Man wollte sie als Inoffizielle Mitarbeiterin engagieren , um die vielen Verwandtschaftsbesuche von heimatvertriebenen und -verbliebenen Deutschen zu beobachten . Das konnte meine Mutter aber erfolgreich abwehren .” Ihr Vater wurde im Krieg eingezogen , sein Nachfolger wurde eine Lehrerpersönlichkeit , die Spuren in Ratzkoslar hinterlassen hat : Johann Pfeiffer , der sich später intensiv mit der Geschichte der Gemeinde beschäftigte und eine Dorfmonografie herausbrachte .
In diese Zeit fiel die Ankunft der ersten „ telepesek ” - noch vor der Vertreibung - in einem Dorf , aus dem 1944 / 45 73 Menschen in die Sowjetunion verschleppt wurden , vornehmlich Frauen und Mädchen – 14 kehrten nie heim . Zuerst kamen einige Bukowinasekler und Tschangomadjaren aus der Moldau , danach 1948 in großer Zahl Tschangomadjaren aus der Batschka . Sie nahmen die Häuser der Schwaben in Besitz , die nach Lendl / Lengyel interniert wurden . „ Auf der Oberfläche , so meine Erinnerungen , war alles friedlich , aber wie eine Bekannte vor einigen Jahren erzählte , schwelte es noch lange in meiner Generation ”, so Klara Wagner . Auch die Verstaatlichung der evangelischen Dorfschule brachte große Veränderungen - auch für die Familie Wagner / Várszegi : „ Mein Vater musste mit 40 Jahren zur Nachqualifizierung an die Hochschule in Fünfkirchen . Er als ehemaliger leitender Lehrer unterrichtete noch Deutsch und wurde vornehmlich in der Nachmittagsbetreuung eingesetzt . Damals sind viele junge Lehrer eingestellt worden , die bereits über Abitur und Studienabschluss verfügten . In der Kirche durfte er erst 1966 bei unserer Hochzeit wieder Orgel spielen . Bei meiner Konfirmation Mitte der 1950er Jahre durfte er nicht dabei sein . Das hat meinen Vater 20 Jahre lang unter Druck gehalten , er starb 1969 mit nur 57 Jahren an Krebs . Der Arzt sagte , dass bei seinem Tod wohl die seelischen Belastungen eine entscheidende Rolle spielten .” Aber auch für den Großvater bedeutete der Systemwechsel - wie bereits beschrieben - eine Umstellung , denn er wurde 1950 nach Wagners Erzählungen unter Druck gesetzt , der LPG beizutreten : „ Opa weigerte sich als Einziger im
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