Ankunft der „ telepesek ” – welche Veränderungen brachte dies im Falle von Jerking ?
JB : Die Nationalitätenstruktur des Dorfes hat sich mit der Vertreibung der Deutschen und der Neuansiedlung der Ungarn grundsätzlich verändert . Vorher waren mehr als 90 % der Einwohner Deutsche , nachher machten sie nur die Hälfte aus , die andere Hälfte bildeten die Ungarn bzw . Madjaren . Die Neuansiedler aus dem Oberland („ telepesek ”) und aus Ost-Ungarn ( bei uns „ Tschangos genannt ) haben – wie überall – die Häuser und Felder der Deutschen bekommen und übernahmen von Anfang an die Führung in der Gemeinde . Die Ansiedlungsinspektoren drängten den Gemeindevorstand in den Hintergrund und hatten die unbeschränkte Vollmacht im Dorf . Zwischen Deutschen und Ungarn ( bei uns aus dem ung . Wort kuruc auch „ Kruzen ” genannt ) entstand verständlicherweise Feindschaft und es kam zu Reibereien . Gegenseitig war man Spötteleien und Beschimpfungen gewohnt . Einerseits gab es die „ dreckigen Schwaben ”, anderseits die „ lumpigen Tschangos ”. Die Feindseligkeit unter den Jugendlichen endete im Dezember 1949 leider mit einem Mord . Von einem Ungarn wurde ein Deutscher getötet . Auch feindselige Zeitungsartikel über Jerking haben in den ersten Jahren das Zusammenleben vergiftet . Einer davon beschäftigte sich mit dem Konflikt zwischen ungarischen / madjarischen Reformierten und deutschen Lutheranern . Die unseligen Umstände veränderten sich nur sehr langsam , die Feindseligkeiten hörten erst nach Jahrzehnten auf .
SB : Nun sind wir in einer Zeit angekommen , die Sie als Nachkriegskind bereits ( teilweise ) bewusst erlebt haben . Wenn man auf die Nachkriegsgeschichte zurückblickt : Welche Veränderungen vollzogen sich in Jerking seit den 1950er Jahren , welche waren für Jerking spezifisch und wo sehen Sie Gemeinsamkeiten mit anderen Dörfern bzw . Landesteilen ?
JB : In den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich langsam eine selbständigere Dorfführung , was auch zu eigenen Initiativen des Gemeinderats führte . Wichtige Modernisierungen wurden in diesen Jahrzehnten verwirklicht . Im Dorf wurde Strom eingeführt , eine Wasserleitung errichtet , Straßen und Gehsteige wurden ausgebaut . Zur Verwirklichung waren aber eine prosperierende LPG und der Fleiß der Einwohner unentbehrlich . ( In einer Reportage in der Komitatszeitung im Jahre 1978 wurden Wohlstand , Sparsamkeit und Fleiß der Jerkinger nachdrücklich betont .) Außerdem war noch die Zusammenarbeit des Ratsvorsitzenden , des Parteisekretärs und des LPG-Vorsitzenden dazu nötig . Jerking gehörte zu den wenigen Dörfern , wo diese positive politische Konstellation der drei Machtbereiche charakteristisch war . Der Wohlstand der Einwohner ist auch infolge des zusätzlichen Einkommens aus der „ zweiten ” Wirtschaft gewachsen : Der Konsum nahm in allen Bereichen zu , die Wohnungen wurden modernisiert . Diese Tendenz war gewissermaßen überall im Lande wahrzunehmen . Während der alle drei Jahre möglichen Verwandtenbesuche in Deutschland erlebten viele Jerkinger im alltäglichen Leben der Vertriebenen auch wichtige Unterschiede zwischen dem Lebensniveau im Osten und dem im Westen , wodurch auch die Konsumwüsche sowie teilweise auch die politische Denkweise stark beeinflusst wurden . Diese Erfahrungen waren einem Ungarn nicht zugänglich .
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SB : Die Evangelische Kirche ( ngemeinde ) spielte in der Vergangenheit – ähnlich wie bei den Siebenbürger Sachsen – eine wichtige Rolle bei der Bewahrung der Identität – inwiefern hat sie für die verbliebenen Deutschen immer noch eine identitätsstiftende Funktion ?
JB : Nachdem Pfarrer Johann Schmidt Ende 1944 infolge einer Bedrohung seine Kirchengemeinde verließ , hat sich die identitätsstiftende Funktion der Evangelischen Kirchengemeinde prinzipiell verändert . Danach wurden Gottesdienste nur in ungarischer Sprache gehalten . Von der Kanzel wurde dann jahrzehntelang nicht über die deutsche Identität und das Erhalten von alten Bräuchen gepredigt . Trotzdem spielte das Kirchenleben eine wichtige Rolle für die verbliebenen Deutschen , denn die Gottesdienste und Bibelstunden waren gute Gelegenheiten zur Stärkung und zum Zusammenhalten der Gemeinschaft .
Nach der Wende hat die Kirchengemeinde ihre Rolle bei der Bewahrung der deutschen Identität der Einwohner langsam wieder gefunden . Auf Initiative der örtlichen Deutschen Selbstverwaltung werden in den letzten 15 Jahren an den Nationalitätentagen zeitweise auch zweisprachige Gottesdienste gehalten . Am 60 . Jahrestag des Beginns der Vertreibung der Jerkinger wurde an der Vorderseite der Kirche eine Gedenktafel feierlich eingeweiht und seitdem wird hier jedes Jahr am Gedenktag der Vertreibung nach dem Gottesdienst ein Kranz niederlegt . Viel mehr ist von der Kirche heute eigentlich nicht zu erwarten , denn die nacheinander folgenden Pfarrer waren – bis auf einen Seelsorger - der deutschen Sprache nicht mächtig und der Kirchengemeinde sind schon viele ungarische Mitglieder beigetreten . Eine muttersprachliche Seelsorge hat also heute keine Realität und es ist damit wahrscheinlich auch in naher Zukunft nicht zu rechnen . Die Kirche ( ngemeinde ) trägt also für die Jerkinger verbliebenen Deutschen vor allem eine wichtige symbolische Funktion des Daseins und Weiterlebens . Die praktischen identitätsstiftenden Funktionen übernahmen die Deutsche Selbstverwaltung und die Schule .
SB : Die deutsche Gemeinschaft in Ungarn ist stark von Assimilationstendenzen betroffen – die Sprache verschwindet aus den Familien , nicht zuletzt durch den immer größeren Anteil von Mischehen und das weitgehend fehlende deutsche Schulsystem mit muttersprachlichem Unterricht . Außerdem sind durch die Landflucht dörfliche Gemeinschaftsstrukturen seit Jahrzehnten am Verschwinden – ist Jerking vielleicht eine Ausnahme davon ?
JB : Die Assimilationstendenzen verschonen leider auch Jerking nicht . Der Jerkinger Dialekt verschwindet mit der Nachkriegsgeneration endgültig , unsere Nachkommen werden diese Sprache weder sprechen noch verstehen können . Es ist eine unvermeidbare Nachwirkung des ungarischsprachigen sozialen und kulturellen Umfeldes , in dem wir seit vielen Jahrzehnten leben . Es bleibt also als identitätsbildende Alternative nur das Hochdeutsche . Dies haben unsere Eltern schon früh erkannt . Der Anspruch auf den Unterricht der deutschen Sprache kam in einer Elternversammlung im Oktober 1958 zum Ausdruck und im Januar 1959 hat man schon mit dem Unterricht der deutschen Sprache als zusätzliches Fach begonnen . Von den 1960er Jahren an war für viele Jerkinger Schüler das erwünschte Ziel der deutsche Klassenzug des Klara-Leöwey-Gymnasiums und im Jahrbuch des Gymnasiums zum 25 . Jubiläum im Jahre 1981 ist zu lesen , dass während dieser Zeitspanne Jerking mit der Zahl der auf-
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