Sonntagsblatt 2/2023 | Page 29

rische Nationalität eingetragen . Die Mundart blieb also von dieser Tendenz verschont . Meine Generation hat noch den Jerkinger Dialekt als Muttersprache erworben , von meinem Vater habe ich aber kein einziges Lied in der Mundart erlernt – obwohl er gerne und oft gesungen hat . Auch meine eigene Erfahrung bestätigt die Behauptung von Johann Schmidt .
SB : Etwa 85-90 % der Ungarndeutschen sind katholisch ( bzw . katholischer Abstammung ). Die langläufige Meinung ist , dass die Habsburger in den zurückeroberten Gebieten bewusst Katholiken angesiedelt haben , was so nicht ganz stimmt . Welche Beweggründe standen hinter der Entscheidung , protestantische Hessen aus Darmstadt und Umgebung in die Tolnau ( und speziell nach Jerking ) einzuladen ? herrscht , hat sie eine sehr starke deutsche Identität . Sowie auch meine beiden Töchter .
SB : Sie beschäftigen sich mittlerweile seit Jahrzehnten mit der Geschichte Jerkings in der Tolnau – was hat Sie dazu geführt und was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse über Ihr Heimatdorf ?
JB : Mein Großvater mütterlicherseits sagte oft : Jerking ist der Mittelpunkt der Welt und alle Flurwege führen zur „ Kellerhöhe ” ( Kellerberg ). Der Satz ist dann auch mein Leitspruch geworden . Die Kellerhöhe , das „ Dorf ohne Schornsteine ”, hat mich schon immer angezogen . Dort konnte man im engen Kreis Geschichten über Ereignisse der Vergangenheit wie den Zweiten Weltkrieg oder die Vertreibung der Schwaben zu hören bekommen . Auch meine Familiengeschichte inspirierte mich dazu , der Geschichte des Dorfes eine tiefere Forschung zu weihen . Mein Urgroßvater väterlicherseits war Zimmermann und hat am Bau des Jerkinger Kirchenturms teilgenommen .
Meine Recherchen haben für mich folgende wichtige Erkentnisse gebracht . Einerseits hat es sich eindeutig bestätigt , dass Jerking im 19 . und bis zur Mitte des 20 . Jahrhunderts zu den ärmeren ungarndeutschen Dörfern gehörte . Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte von der Landwirtschaft , das Dorf war aber übervölkert und die Besitzstruktur der Gemeindefläche war für die Mehrheit sehr ungünstig . Dies führte zu gewaltigen sozialen Unterschieden , zur Armut und zum Kampf um den Lebensunterhalt . Über diese rauen Lebensumstände ist ein Spruch erhalten geblieben : „ Frau sterben , das kann den Bauern nicht verderben , Ross frecken , das kann den Bauern erschrecken .” Anderseits musste ich leider auch feststellen , dass in meinem Heimatdorf am kulturellen Erbe und an alten Traditionen heute nur relativ wenig aufzufinden ist . Der ehemalige evangelische Pfarrer Johann Schmidt schrieb in seiner Rückerinnerung mit Bitterkeit erfüllt über seine Amtszeit zwischen den beiden Weltkriegen : „ Ahnenerbe war nicht heilig , das deutsche Volkslied war verstummt . Sitten und Bräuche des Volkes der alten Heimat waren vergessen . Die Gemeinde ging der völligen Magyarisierung entgegen .” Diese Meinung ist zwar ein wenig übertrieben , aber es ist eine bedauerliche Tatsache , dass die Assimilation in dieser Periode in Jerking - insbesondere unter den Jugendlichen - in größerem Maße fortgeschritten war als in den geschlossenen deutschen Dorfgemeinschaften der Branau oder im Talboden ( Völgység ) in der Tolnau . Mehr als ein Viertel der deutschen Einwohner in Jerking haben laut der Volkszählung von 1941 neben der deutschen Sprache die unga-
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JB : Protestanten waren am Anfang der Neubesiedlung offiziell eigentlich unerwünscht . Manche Grundherren haben bei der Ansiedlung auch auf den Glauben der Kolonisten Rücksicht genommen . Sie haben - um den konfessionellen Zwist zu vermeiden - Einsiedler nur mit derselben Konfession sesshaft gemacht . Es gab Grundherren , die nur Katholiken aufgenommen haben . Der Bedarf an Arbeitskräften hatte aber tolerante Grundbesitzer dazu bewegt , auch Protestanten auf ihre Grundbesitze zu locken . Während dem ersten Schwabenzug hat Graf Mercy , Kolonisator des Banats - dem Willen des Wiener Hofes zuwidergehandelt - auf seinen Besitztümern in der Tolnau - in den Dörfern , die früher von Protestanten bewohnt waren - evangelische Deutsche aus Hessen angesiedelt . Auch andere Grundherren sind ihm gefolgt , unter ihnen auch János Meszlényi . Er hat zu den evangelischen Heidebauern aus Westungarn Lutheraner aus Hessen nach Jerking gebracht . In seinem urbarialen Vertrag ( im Jahre 1722 ) hat er - ein Katholik - den Jerkinger Bauern eine freie Ausübung ihrer Konfession gewährt . Hinter den Entscheidungen der Grundherren standen also neben wirtschaftlichen Interessen auch rationale Beweggründe .
SB : Eine weitere interessante Episode stellte die Amerikaauswanderung Ende des 19 ./ Anfang des 20 . Jahrhunderts dar . Auch mit diesem Kapitel der Dorfgeschichte haben Sie sich beschäftigt – inwiefern hat dieses Migrationserlebnis das Dorf verändert ?
JB : Darüber stehen mir nur spärliche Kenntnisse zur Verfügung . Von den Auswanderern sind nur einige Leute zurückgekehrt , die mit ihrem mitgebrachten Geld sich eine neue und erfolgreiche Existenz schaffen konnten . Einer von ihnen wurde später sogar zum Dorfrichter gewählt . Über ihre Erlebnisse sind in Jerking leider keine Dokumente vorhanden ; ihre Erinnerungen sind auch mündlich nicht an die späteren Generationen überliefert worden . Wir wissen auch nicht , wie diese Erlebnisse auf die Daheimgebliebenen wirkten . Sicher ist nur , dass sich die Zusammensetzung der Einwohnerschaft der Gemeinde in dieser Periode allmählich verschlechterte : Die Zahl der von der Landwirtschaft lebenden Knechte und Landarbeiter beträgt im Jahr 1900 erst ein Viertel , 1920 schon die Hälfte . Diese Tendenz nahm in den 30er Jahren noch zu . Die Dorfgesellschaft hat sich also infolge der Auswanderung im Wesentlichen verändert .
SB : Einen harten Einschnitt bedeuteten die Bevölkerungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg : Vertreibung , Bevölkerungstransfer ,
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