Sonntagsblatt 2/2023 | Page 24

fotografiert habe . Ich kann ihn beruhigen , ich hatte lediglich am Straßenschild Interesse , denn hier treffen sich die Ödenburger und die Czernowitzer Straße . einem solchen Gebiet gehört auch der Rand der Heimstättensiedlung . Manche Passanten erzählen noch von den Hinterlassenschaften der Soldaten in den umliegenden Gebüsch- und Feldlandschaften , als diese bis vor wenigen Jahren noch als Truppenübungsplätze genutzt wurden .
Es ist ein Werktagnachmittag . Das Ortsbild dominieren Mütter , die ihre Kinder aus Schule und Kita nach Hause begleiten , ältere Mitbürger , die ihre Hunde ausführen , und Handwerker , denn vieles wird renoviert oder im Zeichen einer „ Nachverdichtung ” gebaut . Auch mein Weg führt erst einmal durch ein Neubaugebiet - eine baugeschichtliche Reise , denn hier dominieren im Gegensatz zur alten Heimstättensiedlung Reihen- und Mehrfamilienhäuser , gewissermaßen als Ausdruck deutlich gestiegener Bodenpreise und massiven Zuzugs in den letzten Jahren und Jahrzehnten . Ich biege in die Ödenburger Straße ein , wo mich ein anderes Bild erwartet : Doppelhaushälften , aber auch freistehende Einfamilienhäuser bestimmen das Straßenbild , dazu noch große Vor- und Hintergärten - heute in Ballungszentren wie dem Rhein-Main-Gebiet , wo der Quadratmeter bis zu mehrere tausend Euro ( mehrere 100.000 Forint ) kosten kann , für Normalverdiener so gut wie unbezahlbar .
Als die Heimatvertriebenen hier ihre Häuser bauten , sah es noch anders aus - nicht zuletzt dank dem Lastenausgleichsgesetz , das der schnellen Integration der Deutschen aus dem Osten diente . Und diese führt ja bekanntlich oft über Wohneigentum . Ein Herr hält mit seinem Wagen , ich quatsche ihn an . Sehr überrascht und harsch gestikulierend zeigt er auf eine Frau in den Siebzigern , die auf der anderen Straßenseite gerade zu ihrem Auto läuft .
Der Mann spricht gebrochen Deutsch , also auch einer mit Migrationshintergrund , wohingegen die ältere Frau mittlerweile als alteingesessen gelten kann . Jedenfalls kennt sie sich bezüglich der Geschichte der Donausiedlung gut aus . Wie es sich herausstellt , waren ihre Schwiegereltern „ Deutsche aus Ungarn “. Das Viertel habe in den letzten Jahren sein Gesicht verändert , denn viele Heimatvertriebenen seien bereits verstorben und zahlreiche ihrer Nachkommen weggezogen . Es wohnten nur noch punktuell heimatvertriebene Familien in der Donausiedlung . Diesen Eindruck bestätigt auch ein anderer Bewohner in der Straße , ein in etwa gleichaltriger Mann , der wissen will , warum ich sein Haus
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Die Siedlung hat es eigentlich in sich : Die Heimstättensiedlung wurde peu à peu ausgebaut , die Gründungsgeschichte geht auf die letzten Jahre der Weimarer Republik und die Weltwirtschaftskrise zurück : Arbeitslose sollten eine Chance erhalten , durch Selbsthilfe und zu einem geringen Erbbauzins Wohnhäuser zu bauen . Der Prozess zog sich hin und gilt heute deshalb schlechthin als nationalsozialistisches Wohnungsbauprojekt . Nach dem Krieg kamen Deutsche aus Ungarn und Buchenwalddeutsche hierher und hier treffen sich beide Fäden bzw . Straßennamen : der von Ödenburg und der von Czernowitz , der Hauptstadt des Buchenwaldes resp . der Bukowina . Aber dass die ( Über- ) Siedlungs- und Fluchtgeschichte der Bukowinadeutschen alles andere als gradlinig verlief , bestätigt ein Buchenwaldeutscher Jg . 1936 , den ich vor der katholischen Heilig-Kreuz-Kirche anspreche .
Er berichtet , dass er 1939 zusammen mit seiner Familie „ heim ins Reich “ geholt worden sei – sie als Volksdeutsche sollten die annektierten polnischen Gebiete germanisieren . Die Familie floh bei Kriegsende nach Angaben des Mannes ins zerstörte Deutschland ( in die amerikanische Besatzungszone ). Der damalige Oberbürgermeister habe sie ins zu 80 % zerstörte Darmstadt eingeladen , denn man habe fleißige Hände beim Wiederaufbau gebraucht . Die Vertriebenen hätten sich landsmannschaftlich organisiert , aber diese Aktivitäten hätten heute nachgelassen : Die Jugend interessiere sich nicht mehr dafür . Konfessionell sei die Heimstättensiedlung gemischt gewesen . Das zeigen die beiden Nachkriegskirchenbauten im Stil der 1950er und 60er Jahre : neben der katholischen Pfarrkirche Heilig Kreuz die evangelische Matthiaskirche , die gut anderthalb Jahrzehnte vor dem römisch-katholischen Gotteshaus eingeweiht wurde . Die Heimatvertriebenen in Griesheim , nicht weit entfernt , hingegen seien alle „ stramm katholisch “ gewesen .
Dass es aber nicht nur Deutsche aus Trianon-Ungarn und Bukowinadeutsche waren , die sich in der Heimstättensiedlung mit einer recht vielseitigen Architektur ( Einfamilienhäuser , Doppel- und Reihenhäuser wie Mehrfamilienhäuser ) ansiedelten , zeigt das Beispiel einer Frau Mitte 70 , die ich beim Hundeausführen anspreche . Nicht besonders gesprächig erzählt sie dennoch , dass ihre Eltern aus Serbien stammten , an den Ort erinnere sie sich aber nicht mehr . Viel auskunftsfreudiger ist eine Dame über 90 , die ich in der Ödenburger Straße treffe . Sie stammt aus Falschnone / Felsőnána und hat mit ihrer Familie die Entwicklung der Siedlung miterlebt . Sie fährt mit ihrem Rollator auf dem Hof in Begleitung einer Altenpflegerin auf und ab , die im Hintergrund still zuhört und nickt , als kenne sie all die Erzählungen der alten Dame . Für einen kurzen Plausch habe man immer ein offenes Ohr , so die alte Frau . Sie hat zusammen mit ihrem Mann das hinter ihr stehende , schicke Einfamilienhaus gebaut , als man noch jung gewesen sei . Früher hätten die Vertriebenen noch Zusammenkünfte gehabt und gemeinsam gefeiert , aber viele seien gestorben oder verzogen . Auch die Volkstracht habe man lange getragen . Die Bindun-
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