Sonntagsblatt 2/2023 | Page 25

gen zur Heimat seien nicht ganz abgebrochen worden , sie selbst hätten die Tolnau mehrfach besucht . Bei meinem Spaziergang durch die Straßen der Heimstättensiedlung , die sich durch eine insgesamt trotz Nachverdichtung immer noch großzügige Raumverteilung auszeichnet und eine Atmosphäre „ Hier wohnt man gerne “ ausstrahlt , treffe ich viele Neuzugezogene - Jung und Alt , mit oder ohne Migrationshintergrund neueren Datums – viele wissen um die Geschichte der Siedlung , aber einige nur aus dem Internet , wie ein junger Mann augenzwinkernd einräumt , und damit meint er die Historie der Siedlung vor der Ankunft der Deutschen aus dem Osten . Zum Schluss folgt die emotional wohl intensivste Begegnung , stilgerecht in der Apotheke , die das Navigationsgerät zuerst ausspuckte . Eine Mitarbeiterin Ende 50 wird gerufen , der Familienname typisch ungarndeutsch , jedenfalls hieß mein Musiklehrer
auch so . Sie , aufgewachsen in der Klausenburger Straße , spricht von den Veränderungen in den letzten Jahrzehnten infolge von Wegzug und Nachverdichtung und berichtet von den Anfängen , als die Bewohner noch Tiere zur Selbstversorgung gezüchtet hätten . Landwirtschaft sei für die Siedlung und die Gegend allerdings nicht typisch gewesen , viele arbeiteten in der Industrie , allen voran „ bei Merck “, dem weltbekannten Arzneimittel- und Chemikalienhersteller .
Als sie von Flucht und Familienzusammenführung Mitte bis Ende der 1940er Jahre spricht – die Familie stammt aus der Branau - , kommen ihr die Tränen , sie holt ein Stück Papier und bittet mich , Kontakt mit ihren Eltern aufzunehmen . Aber das ist bereits eine andere Reisenotiz .

EINSICHTEN-ANSICHTEN

EIN LOB DEN FREIWILLIGEN

Von Christoph Bathelt
Letzte Woche war ich einmal wieder in der Branau . Trotz der viereinhalbstündigen Fahrt wieder ein schönes Erlebnis : nach einer angenehmen Autobahnfahrt in ein wirklich reizendes Dorf ohne betoniertes Gewerbegebiet , mit gepflegten Vorgärten , blühenden Büschen und harmonischen Fassaden im Einklang mit der umgebenden Natur ! Ziel war die Tanzvorführung mehrerer Kindergartengruppen im Kulturhaus .
Und was soll ich sagen ? Mein Kommentar wird vermutlich einigen missfallen . Denn wie so oft wurde ich zwar auf Deutsch begrüßt , aber die Veranstaltung selbst fand nur in ungarischer Sprache statt . Die gemeinsame Sprache ist eine der elementarsten Grundlagen - vor allem die Vielfältigkeit der deutschen Mundarten im Allgemeinen und bei den Ungarndeutschen im Besonderen . Die einzelnen Dialekte schwinden rapide und dieser Verlust wird zu Recht beklagt .
Aber : Wo soll man beim Erhalt eines Volkes ansetzen ? Bei der Veranstaltung wurde mir deutlich , dass es so unzählig viele Punkte gibt , wo man um Unterstützung und Hilfe ringen muss , und da kommt
SoNNTAGSBLATT man mit bloßem Herumsudern nicht weiter . Auch ich bedaure den Verfall unserer Kultur , die „ Tschenderei “ der Medien , das Tragen von braunen Schuhen zu blauen Anzügen und gar Turnschuhen . Diesmal möchte ich aber einmal ein Lob und großen Dank aussprechen für die tausenden Freiwilligen nicht nur in den Chören , Tanzgruppen und Blaskapellen , sondern auch für die Eltern und Großeltern , Mütter , Väter , Onkel und Tanten , die bei diesen Veranstaltungen Kuchen backen , die Kinder und Jugendlichen zu den Veranstaltungen fahren , Trachten nähen , Musikinstrumente zur Verfügung stellen und deren Handhabung lehren . Die Kinder und Jugendlichen werden dann nicht nur mit Mobiltelefonen für TikTok oder andere Plattformen für alle Beteiligte gefilmt und dort mehr oder weniger sich selbst überlassen .
Die Freiwilligen sind die , die alte Bräuche wiederbeleben , Heimatstuben einrichten und Besucher herumführen , sich in Gremien der Selbstverwaltung oder der Kirche engagieren , herumreisen , um Kontakte zu pflegen , Bücher und mehr oder minder kluge Netzeinträge verfassen und auf diese Weise ihr Kulturerbe erhalten und pflegen .
Das ist SEHR VIEL .
Fast der komplette Norden Deutschlands hat seine Mundarten bzw . Sprachen in den letzten Jahrzehnten verloren . So war das sogenannte Saterfriesische - eine Variante des Ostfriesischen an der Ems und nahe dem Englischen - vom Aussterben bedroht . Durch die Initiative des afro-amerikanischen Germanisten Marron Curtis Fort ( 1938-2019 ) wurde es in Presse , Funk und Fernsehen wieder so populär , dass es mittlerweile als offiziell anerkannte Minderheitensprache gilt und die Verbreitung wieder wächst . Fort verfasste ein Wörterbuch , sammelte Volksmärchen und übersetzte das Neue Testament ins Saterfriesische : „ Dät Näie Tästamänt un do Psoolme “. Dem ortsfremden Amerikaner wurde , als besondere Auszeichnung , das sogenannte „ Ostfriesische Indigenat “ verliehen . Er wurde also „ Ehrenostfriese “.
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