Sonntagsblatt 2/2022 | Page 9

WENN DIE 70-80-JÄHRIGEN NICHT MEHR DA SIND

Mit der Dialektwörterbuchautorin Judit Endrész aus Ratka im Gespräch
SB : Frau Erdész , Sie haben heuer ein Mundartwörterbuch herausgebracht - wer war Ideengeber des Projekts bzw . woher kam die Motivation ?
JE : Mein Vater , Georg Endrész , war der Ideengeber . Er ist Lehrer für Geschichte , Russisch und Deutsch . Er hatte seit Jahren schon vor , dieses Wörterbuch zu machen , ihm fehlte aber einfach die Zeit . Ich habe Germanistik und Philosophie studiert und Dialekte haben mich schon immer fasziniert . Der zeitliche Aufwand und die Komplexität der Sache haben mich aber zurückgeschreckt , so dass mein Vater ganz lange gebraucht hat , bis er mich vom Projekt überzeugen konnte . Bei uns in Ratka reden nur noch die 70-80-Jährigen „ Schwäbisch “ und uns hat sehr besorgt , dass , wenn sie sterben , dann auch dieser wunderbare Dialekt verschwindet , den unsere Vorfahren fast 300 Jahre lang in einer ungarischen Sprachumgebung bewahren konnten . Daher kam die Motivation . Wir wollten einfach nicht , dass er spurlos verschwindet .
SB : Was war das konkrete Ziel des Projekts , wer war an der Sammlung und Zusammenstellung beteiligt ? Und welchen Anteil hatte die Deutsche Selbstverwaltung am Zustandekommen des Wörterbuchs ?
SoNNTAGSBLATT
JE : Da es im Fall des Ratkaer Schwäbischen um eine quasi veraltete Sprache geht ( Ratka liegt ja nicht inmitten einer deutschen Sprachinsel in Ungarn ( im Sinne von deutschen Sprachinseln in einem ungarischsprachigen Umfeld , Red .) und hatte mit Deutschland keinen Kontakt mehr seit der Auswanderung Mitte des 18 . Jahrhunderts , so konnte sich die Sprache nicht entwickeln ), haben wir nicht darauf gehofft , dass es erlernt wird , weil wir dieses Wörterbuch haben . Für die sprachwissenschaftliche Forschung könnte es aber durchaus interessant sein . Unser Ziel war einfach , dass die Sprache nicht ganz verloren geht , auch wenn sie nicht mehr gesprochen wird . Dieses Wörterbuch ist so wie ein Denkmal . Mein Vater Georg Endrész hat 90 % der Arbeit allein gemacht . Er hat die Wörter und Redewendungen fast vier Jahre lang gesammelt , hat Tonaufnahmen gemacht , dann hat er die Aufnahmen zu Hause bearbeitet . Er hat sogar Konjugations- und Deklinationstabellen erstellt . Dieses Wörterbuch ist eigentlich sein Wörterbuch , ich habe ihn nur auf dem Weg begleitet und ihm bei der Vereinheitlichung der Schriftweise geholfen . Herausgeber des Wörterbuchs ist der Verein „ Schwarzwald “. Die Deutsche Selbstverwaltung war diesmal nicht involviert .
SB : Welche besonderen Erfahrungen haben Sie bei der Arbeit gemacht ?
JE : Dass diese Sprache noch viel interessanter ist , als wir uns am Anfang gedacht haben ! Es gab viele Wörter , mit denen wir zuerst nichts anfangen konnten . Ich meine , aus dem Kontext stellt sich zwar heraus , was sie bedeuten , wir mussten sie aber diesmal schriftlich wiedergeben und dann soll man im Idealfall wissen , wo sie herkommen . Zum Beispiel wird das Verb [ khoie ] sehr oft verwendet und wir konnten sehr lange nicht herausfinden , worauf es zurückzuführen ist und wie wir es schreiben sollen . Nach langer Recherche hat sich herausgestellt , dass es auf die alten Verben „ geheien “, „ keien “ (‚ werfen ‘, ‚ fallen ‘, Quelle : Wörterbuch Grimm ) zurückzuführen ist , die heutzutage wahrscheinlich niemand mehr kennt . Es gibt aber noch viele , viele spannende Beispiele und wir haben oft nachgeschaut , in welchen Teilen Baden- Württembergs der eine oder der andere Ausdruck heute noch verwendet wird , den unsere Leute hier auch verwenden , und so ist in uns irgendeine psychische Verbindung zu dem Herkunftsland unserer Vorfahren entstanden , auch wenn das sich etwas komisch anhört .
SB : Erzählen Sie bitte ein wenig über den Ratkaer Dialekt ! Wie viele Dialektsprecher gibt es noch im Ort und welche ortsspezifischen Gründe gab es für den Verlust des Dialekts ?
JE : Das Ratkaer Schwäbische weicht stark von dem heutigen Schwäbischen ab , auch wenn es viele Gemeinsamkeiten gibt . Es ist eine stark diphthongierte Sprache mit teilweise hochalemannischen Merkmalen ( dank der Nähe des Schwarzwalds zu den Herkunftsdörfern ). Schwer zu sagen , wie viele Dialektsprecher es in Ratka noch gibt ! Es gibt viele , die „ passive “ Dialektsprecher sind : Ich meine diejenigen , die ihn verstehen , aber wenn sie im Dialekt angesprochen werden auf Ungarisch antworten . Tagtäglich schwätzen nur noch die 70-80-Jährigen schwäbisch , höchstens 150 Personen .
Ratka war lange ein geschlossenes Dorf , lange haben die Dorfbewohner untereinander Familien gegründet . Da Ratka weit weg von den deutschen Sprach-
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