Sonntagsblatt 2/2022 | Page 4

Ungarndeutschen Werktätigen eine Rede hielt , in der er die vom ungarischen Staat nach Kriegsende ausgesprochene Kollektivschuld verurteilte . Eine weitere Folge der Rede war die Enttabuisierung der Vertreibung im öffentlichen Diskurs . Das Fazit der Nachkriegsjahre bis zur Wende war für die ungarndeutsche Gemeinschaft verheerend : Die erlittenen Verluste der Nachkriegsjahre , die erzwungene Assimilation der Kádár-Periode und der damit verbundene Sprachverlust haben die Gemeinschaft erheblich geschwächt .
Wassertheurer : Die Änderung kam mit der Wende 1989 / 90 . Was bedeutete die Wende für das Ungarndeutschtum ?
Die Wende wurde mit großem Optimismus verfolgt , auch aus der Perspektive der Ungarndeutschen . Ein großes Ereignis der Nachwendezeit war die Verabschiedung des Nationalitätengesetzes von 1993 , welches das Verhältnis zwischen der Minderheit als Gruppe und dem Staat auf ein rechtsstaatliches Niveau hob und auch im Bildungswesen großzügiger mit den Minderheiten umging ; es muss jedoch erwähnt werden , dass die Umsetzung des Gesetzes nicht vollständig war . Ein weiteres wichtiges Ereignis war auch die Frage der Entschädigungen für die Taten der ungarischen Regierungen zwischen 1939 und 1989 , wobei sich das Parlament mehrmals mit dieser Frage beschäftigte . Wer und wie sollte entschädigt werden ? Die Entschädigung der Enteigneten löste in einem Teil der Mehrheitsbevölkerung Unmut aus , während bestimmte politische Kräfte die Entschädigungen mit dem Ziel zu instrumentalisieren versuchten , diese nicht zu gewähren . Als Begründung wurde die wirtschaftliche Lage des Landes genannt , die eine solche Entschädigung nicht erlaube . Auch die bisherige Struktur der politisch-kulturellen Organisation der Ungarndeutschen veränderte sich grundlegend . Als Ergebnis der Kommunalwahlen von 1994 entstanden die ersten lokalen Nationalitätenselbstverwaltungen ( insgesamt 163 ), denen folgte Anfang 1995 die Bildung der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen ( LdU ), welche sich auf die lokalen Nationalitätenselbstverwaltungen stützte . Als Folge ihrer Entstehung wurde der Demokratische Verband der Ungarndeutschen aufgelöst . Es wurden erste Schritte in die Richtung einer politischen Vertretung der Ungarndeutschen unternommen .
Wassertheurer : Minderheiten verfügen in Ungarn über eine Selbstverwaltung . Können Sie dieses System kurz erklären ? Welche Aufgaben fallen der ungarndeutschen Selbstverwaltung zu ?
Das System hat drei Ebenen : die Gemeinde- , die Regional- und die Landesebene . Auf der Gemeindeebene ist die wichtigste Aufgabe die Koordination und das Management kultureller Aktivitäten für die Ungarndeutschen . Diese betrifft Museen , Tanzgruppen , Chöre , Kindergärten und Grundschulen . Selten befindet sich eine Schule in der Trägerschaft der lokalen deutschen Minderheitenselbstverwaltung , welche auch für das Funktionieren und die Administration der Schule verantwortlich ist . Auf regionaler Ebene geht es um das Koordinieren der verschiedenen Selbstverwaltungen der Gemeinden und die Durchführung von regionalen Programmen . Diese Aufgaben werden von den Regionalbüros der LdU übernommen . Auf Landesebene sind die Tätigkeiten der LdU am vielfältigsten , offiziell werden diese wie folgt beschrieben :
„ Das erklärte Ziel der Selbstverwaltung liegt in Erhalt und Förderung der Sprache , des geistigen Kulturerbes , der geschichtlichen Traditionen und der Identität der Ungarndeutschen . Dazu zählen auf kultureller Ebene die Bewahrung und Pflege der deutschen Muttersprache , die Förderung des Deutschunterrichts im ungarischen Schulwesen und der Austausch mit Deutschland in Form von Partnerschaften und Programmen . Die Verwirklichung der kulturellen Autonomie , d . h . die Übernahme von ungarndeutschen Institutionen in eigene Trägerschaft , ist Schwerpunkt der Tätigkeit der LdU .“
Das Nationalitätengesetz wurde 2011 geändert , was zur Folge hatte , dass jede Minderheit einen Sprecher ins Parlament entsenden darf und bei genügend Stimmen für die ungarndeutsche Liste ist es möglich , einen Abgeordneten mit einem Vorzugsmandat zu entsenden . Nach den Parlamentswahlen 2014 konnte die Minderheit den Parlamentssprecher Emmerich Ritter entsenden , nach den Parlamentswahlen 2018 erhielt er ein volles Mandat . Die neue Rolle des Abgeordneten hat die LdU vor Herausforderungen gestellt , da die Arbeit im Parlament von Seiten der Allgemeinheit mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt wird .
Wassertheurer : Man hört immer wieder , dass die deutsche Sprache zu den größten Herausforderungen zählt . Wie würden Sie die Situation der deutschen Sprache bei den Ungarndeutschen beschreiben ? Wo wird sie gelernt ? Wird sie noch in den Familien gesprochen ?
Die Lage der deutschen Sprache in Ungarn ist schwierig . Die Assimilation und das seinerzeitige Verbot , die Sprache öffentlich zu verwenden , haben dazu geführt , dass die heutige Elterngeneration vielfach zu Hause nur Ungarisch gelernt hat . Da die Eltern kein Deutsch mehr sprechen , werden sie auch ihren Kindern die Sprache nicht mitgeben . Das heißt , dass für etwa zwei Drittel der Gemeinschaft Deutsch eine Fremdsprache ist , welcher sie das erste Mal in der Schule ( oder im Kindergarten ) begegnen . Die Bildungseinrichtungen , die von der LdU getragen werden , sind innerhalb Ungarns hoch angesehen , aber eine in der Schule als Fremdsprache gelernte Sprache wird nicht so einfach zur Muttersprache . Problematisch ist jedoch auch , dass viele Jugendliche den Wert der deutschen Sprache erst zu spät erkennen , da sich bei den jüngeren Generationen der Medienkonsum zumeist auf Englisch oder Ungarisch vollzieht . Erst im späteren Lebensabschnitt - egal ob in Ungarn oder im mitteleuropäischen Ausland - wird Deutsch als eine zumindest gleich wichtige Sprache erkannt .
Die Situation der Sprache befindet sich für die Gemeinschaft in einem Dilemma , denn es gibt zwar hilfreiche Förderungen zum Spracherhalt , ohne
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