Sonntagsblatt 2/2022 | Page 33

Ein Tatsachenbericht aus Ungarn

FLUCHT VOR VERSCHLEPPUNG

Von Heinrich Oppermann - erstmalig erschienen im Donautal-Magazin , Mai 2022
Weihnachten 1944 war gerade vorbei , die Front erst wenige Wochen vorher an unserem Dorf Kaposszekcső in der Branau vorübergezogen , da trom- melte der Kleinrichter gegen Abend , dass am nächsten Tag zwischen Neun und Zwölf sich alle deutschen Frauen der Geburtsjahre 1915 bis 1927 , und Männer der Jahrgänge 1910 bis 1927 , auf dem Gemeindeamt einzufinden hätten . Es sickerte durch , dass diese Jahrgänge der Deutschen , wie schon in anderen Dörfern , zu Zwangsarbeiten in Ungarn oder gar nach Russland verschleppt würden . Großvater und Vater berieten mit Hild- Großvater und kamen überein , dass wir fliehen müssten . Es war spät am Abend , die Nacht lag schon über dem Dorf und nur aus wenigen Häusern drang ein spärliches Licht durch die Fenster , das von zurückgedrehten Petroleumlampen oder Verdunkelung kündete .
Wir zogen los ohne jegliches Gepäck , um kein Aufsehen zu erregen . Mutter , Jahrgang 1915 , Vaters Schwester Margarethe , meine Hildtante , 1914 , mein Vater , 1907 und wir drei Kinder , mein Bruder Hans 9 und Cousin Hans und ich 10 . Mein Vater war gerade so genesen und musste uns geleiten . Sein Jahrgang war nach dem Trommelwirbel des Kleinrichters nicht genannt und seine 75 % -ige Invalidität hätte ihn wohl ohnehin ausgelassen . Vater war als Soldat der ungarischen Honvéd im Kessel von Stalingrad im Februar 1943 verwundet worden . Ein Arm- und ein Beindurchschuss fesselten ihn mit Fieber auf dem Rückzug auf ein Pferdefuhrwerk . Das in den Stiefeln und Handschuhen sich sam- melnde Blut gefror und ihm wurden im Lazarett bei Satwardein / Szatmárnémeti ( heute Satumare , Rumänien ) der linke Fuß bis zur Mitte und am rechten die Zehen abgenommen . Der Armdurchschuss hatte den Verlust von zwei Fingern der linken Hand gekostet . Nach Genesung kehrte er im Spätsommer 1943 heim , ging zunächst an zwei Stöcken , kam aber bald mit einem zurecht und konnte sich leidlich vor- wärtsbewegen und leichte Arbeiten verrichten . Hildtante musste sicherheitshalber mit , wie die drei Männer beschlossen hatten . Ihr Mann , Onkel Hans , kämpfte derzeit noch in den Straßen von Budapest .
Großmutter und Großvater geleiteten uns ein Stück des Weges und blieben dann am Dorfrand zurück . Schildtante , ( Annatante , 1914 ), die Schwägerin mütterlicherseits , sollte ebenfalls mit uns mitkommen , unser Weg führte an ihrem Haus vorbei , aber sie berief sich auf ihren Jahrgang : „... so mitten in der Nacht und so Hals über Kopf “ und verblieb lieber im Dorf .
Wir zogen durch die kalte Winternacht über die Landstraße nach Csíkóstöttös ( Tiedisch ), dem Nachbarort und fuhren von dort mit dem Mitternachtszug „ Dombóvár – Bátaszék “ nach Nagymányok ( Großmanok ). Es sollte der letzte Zug der Strecke für längere Zeit sein . Von der Station in Nagymányok liefen wir bei Nacht und Nebel nach Kismányok ( Klamanok ) hinüber , das zwischen den Ausläufern des Mecsekgebirges wie in einem Sack versteckt liegt . Großmutter stammte aus diesem Sackdorf , das auch heute noch von der Welt völlig abgeschottet und unerreichbar scheint .
Die Überraschung , die Aufregung war groß , als wir weit nach Mitternacht vor der Tür von Großmutters Geburtshaus standen und von ihrer Schwester , Schwestertochter und -tochtermann in die Arme geschlossen wurden .
SoNNTAGSBLATT
Nach dem ersten „ Mein Gott , wo kommt ihr denn her , was ist denn passiert ?“ geleiteten sie uns in die Stube und verteilten uns Kinder in den Betten . Die Großfamilie hat uns freundlich aufgenommen , im Dorf war alles ruhig , von einer Rekrutierung zur Zwangsarbeit hatten sie noch nichts gehört .
Kismányok liegt im Komitat Tolna , Kaposszekcső ( Sekschi ) gehörte zu Baranya . Lag es daran ? Oder war die Entfernung von 35 km Luftlinie schuld , die die Dörfer über mehrere Hügel und Täler voneinander trennte ? Oder lag es an den Informations- und Bahnlinien ? Unser Dorf lag an der Bahnstrecke Dombóvár – Pécs , Nagymányok an der von Dombóvár nach Bátaszék , die durch das von Sektschi südlich gelegene Tiedisch führt . Die Stationen Tiedisch und Sektschi liegen in Sichtweite oder nur eine Steinwurfweite voneinander entfernt . Die Dörfer der Baranya und Tolna , nicht nur entlang der Bahnlinien , sind meist zweisprachig , mal mehr und mal weniger mit Deutschen besiedelt . Das Leben verlief in trauter Nachbarschaft , gleichgültig ob die Siedlungen , Gemeinden oder Städte stärker unga- risch oder stärker deutsch dominiert waren , auch gleichgültig , ob die Gemeinden mehr evangelisch-protestantisch oder mehr römisch-katholisch beteten .
Wir lebten mehrere Tage ruhig in Klamanok , das zu über 95 % deutsch war . Die Männer des Dorfes gingen ihrer Arbeit nach , die jüngeren in die Kohlengrube bei Großmanok , die älteren hantierten in den Presshäusern , die Frauen im Hause . Nachrichten aus unserem Dorfe kamen nur spärlich . Wir Kinder erfreuten uns an dem frisch gefallenen Schnee und rodelten munter an den Hängen rund um das Dorf , über die Hauptwege zwischen den Weinbergen .
Es waren so gute acht Tage vergangen , als der Kleinrichter die Trommel rührte und zweisprachig verkündete , dass am nächsten Tag sich alle deutschen Frauen und Männer der Jahrgänge ab 1915 , bzw . 1910 im Gemeindeamt in Bonyhád zu einer Registrierung einzufinden hätten .
Nun also auch in Klamanok . Wir zogen noch am Abend los in Richtung Heimatdorf , querfeldein , zurück nach Kaposszekcső . Die Eisenbahn fuhr aus technischen oder Witterungsgründen nicht . Onkel Heinrich Nöthling , Großmutters Schwester Sohn , Jahrgang 1908 , sollte mit uns kommen . Er aber blieb in Kismányok mit Verweis auf seinen Jahr- gang . Das war ein tödlicher Entschluss , er kehrte aus der Verschleppung nicht zurück .
Wir pilgerten heimwärts nach einer Übernachtung in Váralja , wo der Kleinrichter seine Trommel noch am Haken hatte und Vater seines Kriegskameraden Jakob Schlitts Witwe eine Aufwartung machte , an Egyházaskozár , Bikal und Mágocs vorbei . Das Tempo schrieb Vaters Kriegstribut vor . Die Dörfer lagen tiefverschneit und deren Kirchtürme wiesen uns den Weg . So kamen wir am übernächsten Tag bei untergehender Sonne im unteren Dorf an , gerade als der erste Zug im neuen Jahr , von Bátaszék nach Dombóvár , die Station in Tiedisch dampfend und schnaufend erreichte .
Von den in den Weinbergen der Dörfer vereinzelt arbeitenden Männern erfuhren wir , dass die Abtransporte der deutschen Jahrgänge schon erfolgt waren . So war auch
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