Sonntagsblatt 2/2022 | Page 17

geführt . Wie unsere alten Bürgerhäuser und die sehr zahlreichen Grabmäler unserer Friedhöfe aus der Barockzeit bezeugen , muss hier eine ganz bedeutende Bildhauergilde existiert haben . Auf dem Gebiete sowohl der geistlichen als auch der profanen Musik wurde Hervorragendes geleistet . Das Theater besaß künstlerische Tradition und Niveau . Die herrlichen alten Möbel , die noch heute in vielen Bürgerfamilien vorhanden sind , zeigen , auf welch hoher Stufe das Kunstgewerbe stand . Heute überall Verfall ! Die öffentlichen und privaten Gebäude zeigen Fabrikstil und Kitsch . Die Auflassung der deutschen Lehrerseminare hatte den rapiden Rückgang der Musikpflege zur Folge . Seitdem das deutsche Theater nur nach Ostern spielen darf , zeigt sich die interessante Erscheinung , dass das Niveau auch des ungarischen Theaters merklich zurückgegangen ist . Zu meiner Jugendzeit ( unter den Direktoren Komjáthy , Szendrői und Somogyi ) waren die ungarischen Vorstellungen ganz exzellent . Seitdem aber die ungarische Gesellschaft vom Oktober bis Ostern spielt und keine deutsche Konkurrenz zu fürchten hat , lässt sich jeder Theaterdirektor gehen - ein Beispiel , von welch wohltätigem Einfluss die Konkurrenz auch auf künstlerischnationalem Gebiete sein kann .
Aber nicht nur die Dinge haben sich verändert , sondern auch die Menschen . Oder besser gesagt : Weil die Menschen anders geworden , sind es auch die Dinge . Nie hätte ich gedacht , dass sich im Laufe weniger Jahrzehnte die Psyche der Menschen so verändern könnte , wie es bei uns geschehen ist . Ich will mich vor jeder Übertreibung hüten und bedenken , dass vielleicht für jeden Menschen eine Zeit kommt , da er mit Meister Anton ausruft : „ Ich verstehe die Welt nicht mehr !“ Auch im objektiven Sinne muss man zugeben , dass seit 1848 oder 1870 die europäische Welt bedeutende seelische Wandlungen erfahren hat . Die großen Evolutionen auf technischem und wirtschaftlichem Gebiete sind an den Menschen nicht spurlos vorübergegangen und vielleicht noch weniger gewisse philosophische Systeme , die erst in unserem Zeitalter zur praktischen Auswirkung gelangten . Wer selbst vor dem Weltkriege Weimar suchte , wird es gewiss nicht in Hamburg oder Berlin - und wahrscheinlich in ganz Deutschland nicht mehr gefunden haben . Trotzdem ist es zweifellos , dass bei uns die große Veränderung in Gesittung und Kultur aufs Engste mit dem Wechsel der Sprache zusammenhängt . Der Beweis ist einfach : Dort , wo man bei uns die deutsche Sprache aufgab , sind Weltanschauung und Lebensauffassung total anders geworden , während sie in jenen Kreisen , wo man an dem Deutschtum festhielt , im Großen und Ganzen dieselben geblieben sind .
Es ist natürlich ungeheuer schwierig , die Unterschiede in Lebensanschauung , Gesittung usw . festzustellen , ohne ungerecht zu werden oder in Übertreibung zu verfallen . Menschen sind wir alle und gerade die köstlichen und wertvollen Dinge im Leben haben die merkwürdige Eigenschaft unmessbar und unwägbar zu sein . Ich könnte wohl darauf hinweisen , doch es würde die mir gezogenen Grenzen überschreiten , dass ich bei meinen Kollegen und Jugendgenossen , bei meinen Neffen und Nichten , bei jungen und älteren Leuten , die von rein deutschen Eltern stammen , aber von Kindheit an in madjarischem Geiste erzogen wurden , fast alles vermisse , was mir an Sitte , Art , Gesinnung , Lebensanschauung und Betätigung vom deutschen Wesen unzertrennlich erscheint . Andererseits müsste ich ihnen wohl manche schöne Eigenschaft und Tugend gutbuchen , auf die sie als Deutsche kaum Anspruch erheben
SoNNTAGSBLATT könnten . Aber da ist es wieder höchst seltsam , dass gerade bei jenen , die die nationale Eigenart nicht mit der Muttermilch eingesogen haben , auch die nationalen Tugenden nicht recht zur Blüte gelangen . Meist sind sie unausgeglichen , bizarr , übertrieben und chauvinistischer als die der Vollblutmadjaren . Es ist wie mit der Pflanze , die im ungewohnten Boden ungewöhnliche Blüten treibt . Ich glaube , dass das Wahrwort Goethes vom höchsten Glück der Erdenkinder im gesteigerten Maße auch für den Staat Geltung hat . Was ist denn eine Nationalität anderes als eine Persönlichkeit im Staate ?! Diese Persönlichkeiten sollten nicht nur nicht gehemmt und erstickt , sondern gerade im Interesse des Staates gehegt und gepflegt werden , eben weil sie das Wertvollste im Staate selbst darstellen . Mir fällt es gar nicht ein , in meinem Garten nur die Rosen oder nur die Kirschbäume stehen zu lassen und alle anderen Blümlein und Obstbäume auszurotten . Im Gegenteil ! Ich freue mich umso mehr , je mehr Arten und Gattungen ich ziehen kann . Das ist nicht nur schön , sondern auch praktisch und vernünftig . Die ganze Idee des extremen Nationalismus und Chauvinismus ist eitel und unwahr , gerade wie Freiheit , Gleichheit und andere Schlagworte : Ideen , deren Mutter übertriebene Eigenliebe und deren Vater nacktes Machtgelüst ist . Was soll denn die nationale Homogenität für Vorteile bieten ? Sind - um bei dem früheren Vergleich zu bleiben - homogene Staaten weniger der Verwucherung und Verwilderung einerseits oder der Überfeinerung und Erschlaffung andererseits ausgesetzt als polyglotte ? Gewiss nicht ! Man denke doch an Frankreich , an Italien , an Spanien ! In Zucht und Ordnung müssen sie gehalten werden , keine Pflanze darf die andere im Wachstum behindern . Das ist die ganze – Staatskunst .
Ich glaube also nicht zu übertreiben , wenn ich behaupte , dass der Staat sich auch dann schadet , wenn er selbst die höhere Kultur der einen Nationalität der anderen aufzwingt . Wenn er aber die Nationalität mit höherer Kultur vernichtet um der minderen willen , dann ist dies ein Verbrechen . Und das ist der Fall des Deutschtums in Ungarn !
Infolge der politischen und kulturellen Farbenblindheit des Nationalismus haben wir heute noch gar keinen rechten Begriff von den spezifischen Eigenschaften der verschiedenen Nationalitäten . Radetzky nannte die Kroaten die besten Soldaten der Welt , aber es ist sicher , dass dieses tüchtige Volk auch noch andere hervorragende Tugenden besitzt . Was wissen wir über die Slowaken ? Dass sie den Tschechen nicht verwandt sind , das ist jedem klar , der dieses biedere , treue Volk ( nämlich die Slowaken ) je gesehen . Ich hatte vor Jahren öfters Gelegenheit die an hohen Feiertagen in Tyrnau ( dem slowakischen Rom ) zusammenströmenden Slowaken zu beobachten und ich muss gestehen , dass ich nirgends - auch nicht in Rom - so edel geschnittene Männerprofile sah wie dort . Ein Volk , das solch einen Typus hervorbringt , ist unbedingt zu Großem berufen , denn ein Zulukaffer wird nie ein Römerprofil haben .
Wie Natur und Geschichte den extremen Nationalismus ad absurdum führen , dafür nur einige flüchtige Beispiele : Napoleon - der Inbegriff der gloire de la patrie - war kein Franzose , sondern Korse . Und seine Muttersprache war nicht Französisch , sondern Italienisch . Der große Empereur hatte zwar den Kontinent bezwungen , aber die französische Sprache nie ganz beherrscht ! – Welch ein großer Deutscher Friedrich der Große gewesen , ist bekannt . Er hätte am liebsten die französische Sprache
17