Sonntagsblatt 2/2020 | Page 8

Suchen wir nach der Realität – oder holt sie uns ein? Von Georg Sawa Wir sind unterlaufen. Wir sind auch hintergangen: wir Deutsche in Ungarn. Teils auch durch uns selbst! Durch Rat und Tat, durch schwache, falsche Ideen, durch Unwissen! Einer der größten Fehler resultiert daraus, dass es das Deutschtum in Ungarn während drei Jahrhunderten nicht nur nicht zu einer gemeinsamen Verkehrsmundart - die man bis heute überliefert hätte - gebracht, sondern auch kein eigenes Geschichtsbild der Gemeinschaft entwickelt hat. Es gibt einschneidende, die Substanz der Existenz betreffende Erfahrungen, die die Gemeinschaft trotzdem nicht zusammengeführt haben. Nichts ist durch unsere eigenen Köpfe gelaufen, wir nahmen kurzerhand die durch diverse Interessen geprägten Erklärungen der Mehrheit an. Natürlich meine ich nicht, dass man sich auf die Schiene ständiger Konfrontationen hätte begeben sollen. Nur: Allgemein bedeutet für uns die Vergangenheit die heile Welt, wo in der Vorkriegszeit auf jedem Ast ein Vogel zwitschert und in einem durch Farben eines ewigen Sonnenaufgangs geprägten Biedermeiernebel jede Ecke und Kante Spinnrosen durch üppige Blütenpracht markieren. In Volkstracht gekleidete Mädels und Burschen spazieren die Gassen auf und ab und winken ihren Basen und Tanten, die ihrem mehrstimmigen Gesang von der kleinen Bank vor ihrem Haus lauschen und ihnen von einem ewigen Lächeln gesäumt mit einem ausgenähten Taschentüchlein in der Hand zublinzeln. Was meint ihr, war es nicht so?! Treten wir nur um einen Schritt von dieser idealisierten Horthy-Ära, von den schönen Szenen der Filmsülzen der Puszta-Romantik - die viele von uns bis heute prägen - zurück, um zum Beispiel einen schriftkundigen Zeugen aus der wilden Zeit unserer Ansiedlung, Pfarrer Michael Winkler (1729-1810), zu zitieren, der in die Historia Domus seiner Tolnauer Pfarrgemeinde, die aus zahlreichen Ortschaften bestand, Folgendes aufschrieb: „Was Kindererziehung anbelangt, schätzen die Eltern ihr Vieh im Stall mehr als die eigenen Kinder.“ „Bescheidenheit, Nachgiebigkeit und Gewissenhaftigkeit sind Tugenden, die bei den Schwaben nur sehr selten aufzufinden sind.“ „Bei ihnen ist nur wenig Familiengeist zu finden, wenn er vorhanden ist, dann nur des Vorteils halber. Darum ist auch kein Sinn für Gemeinschaft, kein Mitgefühl mit Bedürftigen, kein Gespür für öffentliche Ordnung, umso mehr Abneigung gegen die Gesetze. Es herrscht Habsucht und Trachten nach Dingen, die der andere besitzt.“ „Auf Kindererziehung geben sie nicht viel und auch mir wird’s scheinbar für übel aufgenommen, dass ich großen Wert auf Unterricht und Kultur lege.“ Ich denke, es gäbe viel (wissenschaftlich) zu diskutieren, um zurechtzurücken, was unter dem Staub der Geschichte ruht, um unsere Volkskunde zu ergänzen oder gar in ein rechtes Licht zu rücken, denn das Brauchtum und die Chorgesänge decken nicht das Gesamtspektrum unseres Daseins ab. Man könnte denken, dass wenigstens die Vertriebenen, die die Walze der Geschichte am eigenen Leib hinwegdonnern erfahren haben, ihre Historie mit dem rechten Blickwinkel betrachten. Nun, nicht unbedingt! Unlängst rief meine Frau einen Verwandten, der Richtung 95 geht, in Deutschland an, und sie sprachen deutsch. Da sagte der alte Mann, den man quasi mit dem nackten Leib von hier ins Egal-Wohin-Nur-Weg-Von-Hier vertrieben hat, damit er hier das gute „ung‘risch Brot“ nicht mehr vertilge, nach kurzer Weile, er wolle das Gespräch in ungarischer Sprache fortsetzen, denn „sie seien auch in Deutschland Ungarn geblieben”… He?! Wie das? Ja, lautete die Erklärung kurzerhand: „Es waren die Russen. Die Kommunisten.“ Die Geschichte ist aber wohl nicht simpel genug, damit man diese Sache auf diese Art und Weise kurzerhand erklärt. Das waren gewiss nicht die Russen und die Kommunisten – nicht alleine. Sonst hätten Vertreter der ungarischen Regierung nicht von schwelgendem, pathetischem Hass getragen, über die einmalige historische Chance im Parlament gewittert, die man nützen sollte, um uns Deutsche in Ungarn loszuwerden, damit wir gehen mit einem einzigen Bündel – so, wie wir gekommen sind. Oder? Eine ganz andere Sicht, die ich unlängst mit nicht wenig Staunen auf den Seiten unseres ungarndeutschen Wochenblattes gelesen habe: Da bemängelte man, dass auf einem Vertreibungsdenkmal in Sachsen der Text in der Sprache unserer Befreier, in Russisch, nicht eingemeißelt wurde. Sollte man diese „Befreiung“ nicht ebenfalls etwas „nuancierter“ sehen und betrachten? Waren unsere Befreier in der gleichen Sekunde nicht auch unsere neuen Besetzer in Person? Russen hin oder her, die Loyalität zu unserem Heimatland war zu jener schweren Zeit nicht das Entscheidende. Mein Urgroßvater, der seit 1935 aktives Mitglied der Kleinlandwirte-Partei gewesen war, machte mit der Sache seine Erfahrung. Er hatte seine Partei durch finanziellen und persönlichen Einsatz unterstützt, auch als die deutschen Mitbewohner seines Dorfes ihn dafür ausgrenzten, verspotteten und bedrohten. Die Parteiführung des Komitates hatte dies, um ihn und seine Familie von der Liste der Auszusiedelnden zu nehmen, auch schriftlich bezeugt. Das „Dokument“ liegt bis heute vor. Wer denkt, dass er und seine Familie dadurch in Haus und Hof verbleiben durften? Natürlich nicht. Er wurde zwangsumsiedelt und musste in einer Kohlengrube arbeiten, bis er einige Jahre darauf starb. Was lehrt uns die G‘schicht‘? Dass man nur bis zur Wiedergutmachung nach der Wende warten musste, bis unsereiner durch Glasscherben „entlohnt“ wurde? Ich muss sagen, ich sah in der Wende eine Chance gekommen, richtig neu zu beginnen und uns mitsamt unseren Organisationen neu zu definieren und uns endlich landesweit in Sprache und Kultur als Interessengefüge zusammenzuhalten. Diese Gemeinschaft ist aber nicht entstanden. Stattdessen sind wir diszipliniert und wohlerzogen. Taktisch aufgefahren lassen wir uns immer nach Sinn und Zweck in Szene bringen. Historisch gesehen, denke ich, dass diese Situation, in die wir uns einmünden ließen, keine genießbaren Früchte mehr tragen wird. Jedenfalls nicht für uns… Wirtschaftsförderung von Minderheitenregionen – wo bleibst du? Von Patrik Schwarcz-Kiefer 2004 war das der Plan! Ich habe mehrfach betont, dass ohne wirtschaftliche Förderung des Komitats Branau das Branauer Deutschtum, neben den anderen einheimischen Volksgruppen, keine prosperierende Zukunft haben kann. Abwanderung oder schwierigere Lebensumstände als in anderen Teilen des Landes sind die zwei Alternativen für einen Branauer heute. Das ist seit Jahrzehnten so und wenn alles so weiterläuft, wird es auch in den kommenden Jahrzehnten so bleiben. Jedes Land bereitet einen Entwicklungsplan vor, in dem die Schwerpunkte der Entwicklungs- und Regionalpolitik vorgestellt und detailliert beschrieben werden. Natürlich bildet Ungarn keine Ausnahme, diese Art von Planung blickt auf eine lange Geschichte zurück. Während meiner Recherchen nahm ich den Entwicklungsplan aus dem Jahre 2004 in die Hand, in dem ich 8 SoNNTAGSBLATT