Sonntagsblatt 2/2020 | Page 15

– demonstrierte daher für die Einstellung des kriegerischen Blutbades. Und - in Beziehung auf Prohászka ist das am wichtigsten - am Kriegsende erprobte schon ihre Schwingen die katholische Organisation, die Christliche Demokratie. Indessen formierte sich eine dritte Antwort auf die Probleme als eine Reflexion auf die Regierungspolitik, in der eine hartnäckige Anhänglichkeit an das Alte, an den Dualismus, erschien. Eine junge Generation ist seit den 1890er Jahren aufgewachsen, deren Eltern die Idee des Gesamtreiches präferierten. Die wohlhabenden Kreise des Großbesitztums, die so genannte historische Mittelklasse, war Widersacherin jeder Bodenreform und wollte keine Zugeständnisse an die Nationalitäten geben. Die Söhne politisierten elastischer als die Väter, sie grenzten sich nicht von den Reformen ab: Sie standen hinter dem liberal-konservativen System von István Tisza und führten gleichzeitig einen Kampf gegen die „fremden Elemente“, das heißt gegen die Juden. Auf einen Schlag forderten sie eine nationale Wiedergeburt, ein rassistisches Vorgehen gegen die Juden und außerdem einen Widerstand gegen alle reformistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse und der radikalliberalen Intelligenz. Sie sahen, dass die Revolution – wenn die Dinge so weitergingen – unvermeidlich würde, daher gelangten sie zur Idee der Organisation einer Konterrevolution im nationalistischen Sinne. Der von ihnen gegründete „Nemzetvédelmi Szövetség” [Verband für die Nationale Verteidigung] hatte als Ziel die Rettung der ganzen ungarischen Nation und die territoriale Unverletzbarkeit des Ungarischen Königreiches. Aber alles war umsonst, der Krieg fraß alle Geduld und Nüchternheit der Menschen auf, sie wollten nicht mehr warten. Am 31. Oktober 1918 brach die bürgerliche Revolution aus und verhalf der Partei von Mihály Károlyi zur Macht. Für Prohászka schien die neue Lage in vieler Hinsicht günstig zu sein. Die Károlyi-Regierung arbeitete in großer Schnelligkeit ein soziales Programm aus, das sie wegen der Anomalien nach dem Abschluss des Krieges nicht durchzuführen vermochte. Ausgehend von den in Rerum Novarum niedergelegten Prinzipien von Papst Leo XIII wies aber die sozialpolitische Thematik Károlyis viele Gemeinsamkeiten mit den Vorstellungen von Prohászka auf. Prohászka trug sich mit den gleichen Gedanken, vor allem bei der Bodenverteilung. Als der Krieg noch in vollem Gange war, hatte er von seinem Stuhlweißenburger Kirchensprengel angehörenden Grundherrschaften Boden zu verteilen versucht. So schreibt er am 25. April 1915 im Tagebuch: „Noch nicht aufgezeichnet, dass ich die große Kanone in der Sitzung des OMGE abgefeuert habe, ich habe da meinen Antrag über die Bodenverteilung vorgelegt. Kurz habe ich argumentiert, warum? Ich habe an Erbpacht gedacht, nachdem es für etwas anderes kein Geld gibt; und diese Erbpacht so durchzuführen, damit der Pächter nicht fühlt, dass er Schulden tilgt, sondern dass er so etwas hat, was bis auf die »Ewigkeit« das Seine ist.” Prohászka hat sich mit diesem politischen Zug in sein Spiel sehen lassen; die Empörung war groß. „Schon jetzt begannen die Pressereflexionen zu strömen; auch die »Világ« hat sich fürchterlich aufgeführt und ich bekomme Telegramme aus allen Richtungen.” Merkwürdiger Weise gelang Prohászka zu diesem Entschluss mithilfe weltlicher Politiker aus dem Apparat des gemeinsamen Außenministeriums. „Mir wurden diese Gedanken von Gyula Malcolmes` Sekretär des gemeinsamen Außenministeriums gegeben; der ganze Plan gehört ihm, ich habe diesen nur aus kirchlicher Sicht tadelfrei gemacht. Ich habe einen wahrhaftig großen Stein in den »Velence-See« , in dieses breite, seichte Gewässer geworfen. Jetzt wirbelt es und es ringelt sich.” Die Einführung der Modernität hat gewisse Voraussetzungen und die Reformen in der katholischen Kirche gehen nach der Auffassung Prohászkas in diese Richtung: „Es ist möglich, irgendwelchen Vorwand zu suchen, aber es muss anerkannt werden, dass das ungarischen Volk in die ungarische und christliche Richtung mit Bodenverteilung befördert werden soll – und noch etwas: Die Latifundien sind auch bei uns reif zur Aufteilung.” SoNNTAGSBLATT Diese Gesinnungsart würde sich auch mit der Auffassung die Ungarische Unabhängigkeitspartei von Károlyi „reimen”, in ihren Grundzügen sogar mit den Prinzipien der Kommunisten um Béla Kun entsprechen. Gegenüber Béla Kun bestand die größte Differenz darin, dass die im März 1919 ins Leben gerufene „Räterepublik” im Geiste des Bolschewismus die kirchlichen Güter ohne Entschädigung säkularisierte. (Der Unterschied natürlich groß.) Nach der Ernennung der Károlyi-Regierung schaute Prohászka jedenfalls froh und mit Hoffnungen voll in die Zukunft. Das bischöfliche Rundschreiben Anfang November 1918 forderte die Interessierten zur Unterstützung von Károlyi auf. Die Ambivalenz zwischen den außenpolitischen Interessen der Habsburger Dynastie und der ungarischen staatlichen Unabhängigkeit schien mit dem Sieg der bürgerlichen Revolution aufgehoben zu sein. Eines der wichtigsten Hindernisse im Wege der Modernisierung der ungarischen Kirche hatte an Aktualität verloren. Es gab keinen Anlass mehr, mit Rücksicht auf die in dem Weltkrieg noch gültigen Prinzipien „Österreich als katholische Vormacht” zu berücksichtigen. Die Károlyi-Regierung übte die Macht auf Grund der revolutionären Bevollmächtigung aus. Nach Prohászkas Auffassung verursachte die relative Rückständigkeit der Länder die antimagyarische Politik der Dynastie. Im Rückblick auf die Zeit vor 100 Jahren wissen wir, dass es nicht so war, aber um die Jahrhundertwende liefen Forderungen und Kampf für diese völlige ungarische Autonomie noch auf Hochtouren. Die lange unter Despotismus leidenden Polen – mit denen die ungarische Kirche immer Solidarität pflegte – hatten aus den Händen der Entente ihre Eigenstaatlichkeit erhalten. Und die Minderheiten des Königreiches Ungarn sprachen ihren Anschluss an die benachbarten neuen Staatsgebilde aus: die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänisches Königreich. (Fast alle Drei bereuten in kurzer Zeit, dass sie es getan hatten.) Prohászka bereitete dieses letzte Ereignis die größte Sorge. Die Besatzung der Entente und später die Friedensverträge aus den Pariser Vororten hatten die seelische und verwaltungsbezogene Einheit des gesamten ungarischen Christentums zerschnitten. Fünf Diözesen fielen in zwei Teile gespalten auf fremdes Staatsgebiet. Sie mussten sich den neuen Machthabern auf Gnade und Ungnade ausliefern. Nicht wenig Mühe kostete es die ungarischen Kirchenfürsten die aus dieser Lage sich ergebenden Schwierigkeiten zu bewältigen. Vollkommenen Erfolg versprach aber die neue Lage nicht. Auf die einzig mögliche Lösung vertröstete nur die territoriale Revision, also die Wiederherstellung des historischen Ungarischen Königreiches oder mindestens die Ausdehnung der Staats- und dadurch der Diözesangrenzen bis zu den ethnischen Grenzen. Prohászka gehörte dem Kreis jener kirchlichen Würdenträger an, die sich für dieses außenpolitische Programm folgerichtig einsetzten. Die Sozialdemokraten und die Enttäuschung Prohászka hatte keine ungetrübten Verbindungen zu den Sozialdemokraten, was auch mit seiner Haltung gegenüber der jüdischen Frage verbunden war. (Es gab einen relativ hohen Anteil von Politikern jüdischer Herkunft in der Sozialdemokratischen Partei.) Alles, was seinem Lebensprogramm bezüglich des Modernismus in der katholischen Konfession entgegenstand, stand auch ihm persönlich entgegen. Obwohl Prohászka die maßgebende Rolle der Sozialdemokratie in der bürgerlichen Revolution anerkannte, war er der Meinung, diese Partei müsse in der ungarischen Politik zurückgedrängt werden. Das sollte nicht mit Gewalt geschehen - wie im November 1918 und später bei den Bolschewiki in Russland und den ungarischen Kommunisten nach März 1919 - sondern durch demokratische Wahlen für die „nemzetgyűlés”, also die Nationalversammlung. In seinen Rundbriefen legte Prohászka das Gewicht auf die Propaganda: Die Gläubigen dürfen nicht auf die sozialdemokratischen Propagandisten und auf ihre Presse hören, sondern sie müssen sich in (Fortsetzung auf Seite 16) 15