Fanatismus müde?” Die erhabenen Ideen der Aufklärung haben
die Menschheit in die tiefste Grube hineingestoßen. Prohászka
erwartet eine Umdrehung des Menschen: Welches Moment kann
die Menschheit in die richtige Spur zwingen? Die innere Seite
– also der Geist der Religion – erwies sich dazu als ungeeignet.
Gewohnheit ist eine andere Natur. Die „belvilág” (die innere
Welt) kann sich nur dann verändern, wenn gleichzeitig auch die
Außenwelt eine Wendung um 180 Grad macht. Also nur die Politik
könnte dieser Wendung behilflich sein. Mit dieser Erkenntnis
kehrte Prohászka wieder zum Ofen zurück: Er selber ist für diese
Aufgabe ungeeignet, in seine geistige Identität als Mönch wurde
die Politik nicht „eingebaut”, es gibt keine Chance für die „kognitive
Heraufbeschwörung”.
aus diesem Grund wird von mir so angesehen, dass wir dieser
nationalen Berufung schon Genüge geleistet haben und wir treiben
noch eine Weile herum.” Aber: „Lasse Gott den König ruhen,
kein Urteil will ich aussprechen, […] wir leben in einer ganz
anderen Welt, in einer ganz anderen Luft; die Libelle, die über
dem Wasserspiegel kreist, fragt nie nach der Lebensart und der
Gesinnung der Karpfen, der Schmerlen und der Frösche! Ach,
nur empor in die Luft der reinen Gefühle und des unverfälschten
Lebens! Hoch und immer hoch in Gottes Durchsichtigkeit! Dort
ist das echte Leben, alles andere nur labor et dolor et rubor.”
Prohászka rechnet die obligatorische Kondolenz ab und nichts
weiter. Die Sacratissima Majestas, der oberste Patronatsherr
ist tot, und wir müssen die Weisheit der Weisen verwerfen und
wir blicken lustig in die Zukunft voraus (Sprüche, 31/25.). Aber
gar kein Wort über die inzwischen gescheiterten Verhandlungen
über die türkische Expansion , an die sich nebenbei wichtige Nationalinteressen
hätten knüpfen können.
Ottokár Prohászka
Prohászka hielt sich deswegen fern und auch in den verhängnisvollen
Jahren 1915 und 1916 von der Politik zurück. Nicht so die
anderen Erzpriester des Episkopats! Am 26. November 1916 saß
eine Beratungsgesellschaft mit der Teilnahme von weltlichen und
kirchlichen Persönlichkeiten in Budapest zusammen. Es ging
da um die Türkei, den Bundesgenossen der Mittelmächte. Der
Gegenstand reichte bis auf die Ereignisse der Jahre 1912/13, auf
die zwei Balkankriege, zurück, als die Doppelmonarchie alle ihre
wirtschaftlichen Positionen auf dem Balkan verloren hatte. Seit
zwei Jahrzehnten zählte der Balkan als Lebensnerv der österreichisch–ungarischen
Wirtschaft. Die Monarchie wurde aus der
türkischen finanziellen Welt hinausgedrängt, alle Finanzmärkte
und das komplette türkische Wirtschaftsleben hatten die Deutschen
übernommen; Deutschland finanzierte den Krieg, die türkischen
Waffenanschaffungen und bezahlte den Sold der Soldaten.
Also nach dem Frieden von Bukarest 1913 war die deutsche
Auslandswirtschaft Herr im Hofe eines anderen Hausbesitzers.
Es blieb nichts anderes übrig, als die wirtschaftliche Initiative auf
dem Balkan zu übernehmen. Aber die ungarischen weltlichen
Politiker konnten die Aufgabe alleine nicht lösen. Endlich kam
das Angebot der Deutschen der ungarischen Regierung in den
Wurf, der wirtschaftlichen „Mission” in der Türkei auch mithilfe
der Mission der ungarischen katholischen Kirche zum Erfolg
zu verhelfen. Das Treffen hatten die Deutschen zusammengebracht,
und der ungarische Primas, János Csernoch übernahm
das Präsidium. Der deutsche Politiker Matthias Erzberger , Leiter
der deutschen katholischen Zentrumpartei, betonte, neben den
bürgerlichen Verhandlungspersonen sollten auch geistliche mitarbeiten:
„[…] Die Geistlichen würden die Türken mit größerem
Vertrauen behandeln, als die bürgerlichen Partner.“ Die Verhandlungen
wurden am 20. Dezember in München fortgesetzt.
Prohászka blieb alle Male fern. In seinem Tagebuch gibt es keine
Erwähnung. Am 9. Dezember finden wir da eine halbe Seite
über die Generalversammlung des Bistums von Székesfehérvár,
in der dem verstorbenen Kaiser und König Franz Joseph Nachruf
gehalten wurde. Prohászka würdigte ihn und betonte, womit
man ihm schuldig sei. In der kurzen Rede äußerte sich etwas
aus der Phraseologie des ungarischen Nationalgedankens; er
sprach über die nationale Berufung, aber die Rede war äußerst
pessimistisch und lethargisch, überflüssig ist die Klügelei: „[…]
Die dreieinhalb Monate der „Volksrepublik”
Am 31. Oktober 1918 übernahm Graf Mihály Károlyi als Präsident
des „Nemzeti Tanács” [Nationalrat] die Macht. Auch für Prohászka
fing eine neue Epoche an, mindestens hatte er geglaubt, dass
diese Epoche wirklich neu werde, weil sich nach der Auflösung
des 1867er dualistischen Systems neue Wege in der nationalen
Politik und der Modernisierung der ungarischen katholischen Kirche
eröffneten, wobei die Sensibilität der katholischen Dynastie
und Österreich als katholische Vormacht nicht mehr berücksichtigt
werden mussten. Das Land aber musste in der größten Not
leben, es gab kein Brot, keine Kohle, in der Hauptstadt mussten
die Leute stundenlag für ein Stück Fleisch Schlange stehen. Die
Wasserleitungen funktionierten nicht und die Schulen waren geschlossen.
Die ungarische Gesellschaft war am Ausgang des
Krieges mit Konflikten beladen und bis zur Unübersichtlichkeit
geteilt. Das ungarische Königreich stand mit diesen Problemen
nicht allein, in den umliegenden Regionen sahen die Verhältnisse
noch komplizierter und hoffnungsloser aus, beispielsweise
in dem von den Russen weggenommenen Polen , in dem von
den Mittelmächten besetzten Rumänien usw. Nicht nur Russland
stand mit wenigen Schritten vor der Revolution, diese Gefahr bedrohte
gleichzeitig Deutschland und die größten Industriestädte
Zisleithaniens . Alle politischen Schattierungen hatten erkannt,
dass infolge der kriegerischen Verwüstung und der „Kriegsmüdigkeit”
überall chaotische Zustände überwogen, aber auf die
Krisenbehandlung wurden unterschiedliche Antworten gegeben.
Die krisenhaften Abwicklungen – während der Krieg sich seinem
Ende näherte – verbreiteten sich praktisch auf ganz Osteuropa.
Die von den deutschen und österreichisch–ungarischen Armeen
besetzten Ukraine und Russisch-Polen erlebten die tiefste Angst
vor einer bolschewistischen Aufwühlung. Wie bekannt ist, hatten
die Truppen der Mittelmächte im August 1915 Russisch-Polen
erobert und waren 1918 in die Ukrainische Volksrepublik einmarschiert
und hatten dort einem deutschfreundlichen Regime an
die Macht verholfen. Zu Ende des Krieges mussten die ganze
Ukraine und ganz Polen aus militärischer Notwendigkeit geräumt
werden, infolge dessen wurde in Kiew und in Warschau die Stimmung
eines Weltunterganges vorherrschend.
In Ungarn ereignete es sich umgekehrt. Hier trieben die Sozialdemokraten
die Massen – obwohl nicht ganz bewusst – in die
bolschewistische Diktatur hinein. Die ungarischen Sozialdemokaten
(MSZDP), die Bürgerliche Radikale Partei und die um die
soziologische Zeitschrift wirkende Intelligenz - meistens jüdischer
Herkunft - propagierten mit großer Vehemenz die Notwendigkeit
der Revolution. Es gab eine Gruppe um den Grafen Mihály
Károlyi, die für die Unabhängigkeit von Österreich plädierten
– sie gehörten dem adeligen Mittelstand der Großgrundbesitze
an –; die Probleme des Landes versuchten sie mit Demokratisierung
zu erreichen: Bodenreform und allgemeines und geheimes
Wahlrecht. Ihre außenpolitischen Forderungen betraf das
deutsche Bündnis hart. Diese Gruppe – sie alle waren Pazifisten
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