Sonntagsblatt 2/2020 | Page 14

Fanatismus müde?” Die erhabenen Ideen der Aufklärung haben die Menschheit in die tiefste Grube hineingestoßen. Prohászka erwartet eine Umdrehung des Menschen: Welches Moment kann die Menschheit in die richtige Spur zwingen? Die innere Seite – also der Geist der Religion – erwies sich dazu als ungeeignet. Gewohnheit ist eine andere Natur. Die „belvilág” (die innere Welt) kann sich nur dann verändern, wenn gleichzeitig auch die Außenwelt eine Wendung um 180 Grad macht. Also nur die Politik könnte dieser Wendung behilflich sein. Mit dieser Erkenntnis kehrte Prohászka wieder zum Ofen zurück: Er selber ist für diese Aufgabe ungeeignet, in seine geistige Identität als Mönch wurde die Politik nicht „eingebaut”, es gibt keine Chance für die „kognitive Heraufbeschwörung”. aus diesem Grund wird von mir so angesehen, dass wir dieser nationalen Berufung schon Genüge geleistet haben und wir treiben noch eine Weile herum.” Aber: „Lasse Gott den König ruhen, kein Urteil will ich aussprechen, […] wir leben in einer ganz anderen Welt, in einer ganz anderen Luft; die Libelle, die über dem Wasserspiegel kreist, fragt nie nach der Lebensart und der Gesinnung der Karpfen, der Schmerlen und der Frösche! Ach, nur empor in die Luft der reinen Gefühle und des unverfälschten Lebens! Hoch und immer hoch in Gottes Durchsichtigkeit! Dort ist das echte Leben, alles andere nur labor et dolor et rubor.” Prohászka rechnet die obligatorische Kondolenz ab und nichts weiter. Die Sacratissima Majestas, der oberste Patronatsherr ist tot, und wir müssen die Weisheit der Weisen verwerfen und wir blicken lustig in die Zukunft voraus (Sprüche, 31/25.). Aber gar kein Wort über die inzwischen gescheiterten Verhandlungen über die türkische Expansion , an die sich nebenbei wichtige Nationalinteressen hätten knüpfen können. Ottokár Prohászka Prohászka hielt sich deswegen fern und auch in den verhängnisvollen Jahren 1915 und 1916 von der Politik zurück. Nicht so die anderen Erzpriester des Episkopats! Am 26. November 1916 saß eine Beratungsgesellschaft mit der Teilnahme von weltlichen und kirchlichen Persönlichkeiten in Budapest zusammen. Es ging da um die Türkei, den Bundesgenossen der Mittelmächte. Der Gegenstand reichte bis auf die Ereignisse der Jahre 1912/13, auf die zwei Balkankriege, zurück, als die Doppelmonarchie alle ihre wirtschaftlichen Positionen auf dem Balkan verloren hatte. Seit zwei Jahrzehnten zählte der Balkan als Lebensnerv der österreichisch–ungarischen Wirtschaft. Die Monarchie wurde aus der türkischen finanziellen Welt hinausgedrängt, alle Finanzmärkte und das komplette türkische Wirtschaftsleben hatten die Deutschen übernommen; Deutschland finanzierte den Krieg, die türkischen Waffenanschaffungen und bezahlte den Sold der Soldaten. Also nach dem Frieden von Bukarest 1913 war die deutsche Auslandswirtschaft Herr im Hofe eines anderen Hausbesitzers. Es blieb nichts anderes übrig, als die wirtschaftliche Initiative auf dem Balkan zu übernehmen. Aber die ungarischen weltlichen Politiker konnten die Aufgabe alleine nicht lösen. Endlich kam das Angebot der Deutschen der ungarischen Regierung in den Wurf, der wirtschaftlichen „Mission” in der Türkei auch mithilfe der Mission der ungarischen katholischen Kirche zum Erfolg zu verhelfen. Das Treffen hatten die Deutschen zusammengebracht, und der ungarische Primas, János Csernoch übernahm das Präsidium. Der deutsche Politiker Matthias Erzberger , Leiter der deutschen katholischen Zentrumpartei, betonte, neben den bürgerlichen Verhandlungspersonen sollten auch geistliche mitarbeiten: „[…] Die Geistlichen würden die Türken mit größerem Vertrauen behandeln, als die bürgerlichen Partner.“ Die Verhandlungen wurden am 20. Dezember in München fortgesetzt. Prohászka blieb alle Male fern. In seinem Tagebuch gibt es keine Erwähnung. Am 9. Dezember finden wir da eine halbe Seite über die Generalversammlung des Bistums von Székesfehérvár, in der dem verstorbenen Kaiser und König Franz Joseph Nachruf gehalten wurde. Prohászka würdigte ihn und betonte, womit man ihm schuldig sei. In der kurzen Rede äußerte sich etwas aus der Phraseologie des ungarischen Nationalgedankens; er sprach über die nationale Berufung, aber die Rede war äußerst pessimistisch und lethargisch, überflüssig ist die Klügelei: „[…] Die dreieinhalb Monate der „Volksrepublik” Am 31. Oktober 1918 übernahm Graf Mihály Károlyi als Präsident des „Nemzeti Tanács” [Nationalrat] die Macht. Auch für Prohászka fing eine neue Epoche an, mindestens hatte er geglaubt, dass diese Epoche wirklich neu werde, weil sich nach der Auflösung des 1867er dualistischen Systems neue Wege in der nationalen Politik und der Modernisierung der ungarischen katholischen Kirche eröffneten, wobei die Sensibilität der katholischen Dynastie und Österreich als katholische Vormacht nicht mehr berücksichtigt werden mussten. Das Land aber musste in der größten Not leben, es gab kein Brot, keine Kohle, in der Hauptstadt mussten die Leute stundenlag für ein Stück Fleisch Schlange stehen. Die Wasserleitungen funktionierten nicht und die Schulen waren geschlossen. Die ungarische Gesellschaft war am Ausgang des Krieges mit Konflikten beladen und bis zur Unübersichtlichkeit geteilt. Das ungarische Königreich stand mit diesen Problemen nicht allein, in den umliegenden Regionen sahen die Verhältnisse noch komplizierter und hoffnungsloser aus, beispielsweise in dem von den Russen weggenommenen Polen , in dem von den Mittelmächten besetzten Rumänien usw. Nicht nur Russland stand mit wenigen Schritten vor der Revolution, diese Gefahr bedrohte gleichzeitig Deutschland und die größten Industriestädte Zisleithaniens . Alle politischen Schattierungen hatten erkannt, dass infolge der kriegerischen Verwüstung und der „Kriegsmüdigkeit” überall chaotische Zustände überwogen, aber auf die Krisenbehandlung wurden unterschiedliche Antworten gegeben. Die krisenhaften Abwicklungen – während der Krieg sich seinem Ende näherte – verbreiteten sich praktisch auf ganz Osteuropa. Die von den deutschen und österreichisch–ungarischen Armeen besetzten Ukraine und Russisch-Polen erlebten die tiefste Angst vor einer bolschewistischen Aufwühlung. Wie bekannt ist, hatten die Truppen der Mittelmächte im August 1915 Russisch-Polen erobert und waren 1918 in die Ukrainische Volksrepublik einmarschiert und hatten dort einem deutschfreundlichen Regime an die Macht verholfen. Zu Ende des Krieges mussten die ganze Ukraine und ganz Polen aus militärischer Notwendigkeit geräumt werden, infolge dessen wurde in Kiew und in Warschau die Stimmung eines Weltunterganges vorherrschend. In Ungarn ereignete es sich umgekehrt. Hier trieben die Sozialdemokraten die Massen – obwohl nicht ganz bewusst – in die bolschewistische Diktatur hinein. Die ungarischen Sozialdemokaten (MSZDP), die Bürgerliche Radikale Partei und die um die soziologische Zeitschrift wirkende Intelligenz - meistens jüdischer Herkunft - propagierten mit großer Vehemenz die Notwendigkeit der Revolution. Es gab eine Gruppe um den Grafen Mihály Károlyi, die für die Unabhängigkeit von Österreich plädierten – sie gehörten dem adeligen Mittelstand der Großgrundbesitze an –; die Probleme des Landes versuchten sie mit Demokratisierung zu erreichen: Bodenreform und allgemeines und geheimes Wahlrecht. Ihre außenpolitischen Forderungen betraf das deutsche Bündnis hart. Diese Gruppe – sie alle waren Pazifisten 14 SoNNTAGSBLATT