Suchen wir nach der Realität –
oder holt sie uns ein?
Von Georg Sawa
Wir sind unterlaufen. Wir sind auch hintergangen: wir Deutsche
in Ungarn. Teils auch durch uns selbst! Durch Rat und Tat, durch
schwache, falsche Ideen, durch Unwissen! Einer der größten
Fehler resultiert daraus, dass es das Deutschtum in Ungarn während
drei Jahrhunderten nicht nur nicht zu einer gemeinsamen
Verkehrsmundart - die man bis heute überliefert hätte - gebracht,
sondern auch kein eigenes Geschichtsbild der Gemeinschaft
entwickelt hat. Es gibt einschneidende, die Substanz der Existenz
betreffende Erfahrungen, die die Gemeinschaft trotzdem
nicht zusammengeführt haben. Nichts ist durch unsere eigenen
Köpfe gelaufen, wir nahmen kurzerhand die durch diverse Interessen
geprägten Erklärungen der Mehrheit an. Natürlich meine
ich nicht, dass man sich auf die Schiene ständiger Konfrontationen
hätte begeben sollen. Nur: Allgemein bedeutet für uns die
Vergangenheit die heile Welt, wo in der Vorkriegszeit auf jedem
Ast ein Vogel zwitschert und in einem durch Farben eines ewigen
Sonnenaufgangs geprägten Biedermeiernebel jede Ecke
und Kante Spinnrosen durch üppige Blütenpracht markieren. In
Volkstracht gekleidete Mädels und Burschen spazieren die Gassen
auf und ab und winken ihren Basen und Tanten, die ihrem
mehrstimmigen Gesang von der kleinen Bank vor ihrem Haus
lauschen und ihnen von einem ewigen Lächeln gesäumt mit einem
ausgenähten Taschentüchlein in der Hand zublinzeln. Was
meint ihr, war es nicht so?!
Treten wir nur um einen Schritt von dieser idealisierten
Horthy-Ära, von den schönen Szenen der Filmsülzen der Puszta-Romantik
- die viele von uns bis heute prägen - zurück, um
zum Beispiel einen schriftkundigen Zeugen aus der wilden Zeit
unserer Ansiedlung, Pfarrer Michael Winkler (1729-1810), zu zitieren,
der in die Historia Domus seiner Tolnauer Pfarrgemeinde,
die aus zahlreichen Ortschaften bestand, Folgendes aufschrieb:
„Was Kindererziehung anbelangt, schätzen die Eltern ihr Vieh im
Stall mehr als die eigenen Kinder.“ „Bescheidenheit, Nachgiebigkeit
und Gewissenhaftigkeit sind Tugenden, die bei den Schwaben
nur sehr selten aufzufinden sind.“ „Bei ihnen ist nur wenig
Familiengeist zu finden, wenn er vorhanden ist, dann nur des
Vorteils halber. Darum ist auch kein Sinn für Gemeinschaft, kein
Mitgefühl mit Bedürftigen, kein Gespür für öffentliche Ordnung,
umso mehr Abneigung gegen die Gesetze. Es herrscht Habsucht
und Trachten nach Dingen, die der andere besitzt.“ „Auf Kindererziehung
geben sie nicht viel und auch mir wird’s scheinbar für
übel aufgenommen, dass ich großen Wert auf Unterricht und Kultur
lege.“ Ich denke, es gäbe viel (wissenschaftlich) zu diskutieren,
um zurechtzurücken, was unter dem Staub der Geschichte
ruht, um unsere Volkskunde zu ergänzen oder gar in ein rechtes
Licht zu rücken, denn das Brauchtum und die Chorgesänge decken
nicht das Gesamtspektrum unseres Daseins ab.
Man könnte denken, dass wenigstens die Vertriebenen, die die
Walze der Geschichte am eigenen Leib hinwegdonnern erfahren
haben, ihre Historie mit dem rechten Blickwinkel betrachten. Nun,
nicht unbedingt! Unlängst rief meine Frau einen Verwandten, der
Richtung 95 geht, in Deutschland an, und sie sprachen deutsch.
Da sagte der alte Mann, den man quasi mit dem nackten Leib
von hier ins Egal-Wohin-Nur-Weg-Von-Hier vertrieben hat, damit
er hier das gute „ung‘risch Brot“ nicht mehr vertilge, nach kurzer
Weile, er wolle das Gespräch in ungarischer Sprache fortsetzen,
denn „sie seien auch in Deutschland Ungarn geblieben”… He?!
Wie das? Ja, lautete die Erklärung kurzerhand: „Es waren die
Russen. Die Kommunisten.“ Die Geschichte ist aber wohl nicht
simpel genug, damit man diese Sache auf diese Art und Weise
kurzerhand erklärt. Das waren gewiss nicht die Russen und die
Kommunisten – nicht alleine. Sonst hätten Vertreter der ungarischen
Regierung nicht von schwelgendem, pathetischem Hass
getragen, über die einmalige historische Chance im Parlament
gewittert, die man nützen sollte, um uns Deutsche in Ungarn loszuwerden,
damit wir gehen mit einem einzigen Bündel – so, wie
wir gekommen sind. Oder?
Eine ganz andere Sicht, die ich unlängst mit nicht wenig Staunen
auf den Seiten unseres ungarndeutschen Wochenblattes gelesen
habe: Da bemängelte man, dass auf einem Vertreibungsdenkmal
in Sachsen der Text in der Sprache unserer Befreier,
in Russisch, nicht eingemeißelt wurde. Sollte man diese „Befreiung“
nicht ebenfalls etwas „nuancierter“ sehen und betrachten?
Waren unsere Befreier in der gleichen Sekunde nicht auch unsere
neuen Besetzer in Person?
Russen hin oder her, die Loyalität zu unserem Heimatland war
zu jener schweren Zeit nicht das Entscheidende. Mein Urgroßvater,
der seit 1935 aktives Mitglied der Kleinlandwirte-Partei
gewesen war, machte mit der Sache seine Erfahrung. Er hatte
seine Partei durch finanziellen und persönlichen Einsatz unterstützt,
auch als die deutschen Mitbewohner seines Dorfes ihn
dafür ausgrenzten, verspotteten und bedrohten. Die Parteiführung
des Komitates hatte dies, um ihn und seine Familie von der
Liste der Auszusiedelnden zu nehmen, auch schriftlich bezeugt.
Das „Dokument“ liegt bis heute vor. Wer denkt, dass er und seine
Familie dadurch in Haus und Hof verbleiben durften? Natürlich
nicht. Er wurde zwangsumsiedelt und musste in einer Kohlengrube
arbeiten, bis er einige Jahre darauf starb. Was lehrt uns
die G‘schicht‘? Dass man nur bis zur Wiedergutmachung nach
der Wende warten musste, bis unsereiner durch Glasscherben
„entlohnt“ wurde?
Ich muss sagen, ich sah in der Wende eine Chance gekommen,
richtig neu zu beginnen und uns mitsamt unseren Organisationen
neu zu definieren und uns endlich landesweit in Sprache und
Kultur als Interessengefüge zusammenzuhalten. Diese Gemeinschaft
ist aber nicht entstanden. Stattdessen sind wir diszipliniert
und wohlerzogen. Taktisch aufgefahren lassen wir uns immer
nach Sinn und Zweck in Szene bringen. Historisch gesehen,
denke ich, dass diese Situation, in die wir uns einmünden ließen,
keine genießbaren Früchte mehr tragen wird. Jedenfalls nicht für
uns…
Wirtschaftsförderung von Minderheitenregionen
– wo bleibst du?
Von Patrik Schwarcz-Kiefer
2004 war das der Plan! Ich habe mehrfach betont, dass ohne
wirtschaftliche Förderung des Komitats Branau das Branauer
Deutschtum, neben den anderen einheimischen Volksgruppen,
keine prosperierende Zukunft haben kann. Abwanderung oder
schwierigere Lebensumstände als in anderen Teilen des Landes
sind die zwei Alternativen für einen Branauer heute. Das ist seit
Jahrzehnten so und wenn alles so weiterläuft, wird es auch in
den kommenden Jahrzehnten so bleiben.
Jedes Land bereitet einen Entwicklungsplan vor, in dem die
Schwerpunkte der Entwicklungs- und Regionalpolitik vorgestellt
und detailliert beschrieben werden. Natürlich bildet Ungarn keine
Ausnahme, diese Art von Planung blickt auf eine lange Geschichte
zurück. Während meiner Recherchen nahm ich den
Entwicklungsplan aus dem Jahre 2004 in die Hand, in dem ich
8 SoNNTAGSBLATT