nisterpräsidenten wählen. Tagebuch, 7. Juli 1920: „Erneut wurde
ich nach Budapest hinaufgelockt. Am Abend ging ich in den Klub
der Partei, wo mich meine Freunde V. und T, mit der Nachricht
empfingen, dass sie mich zum Ministerpräsidenten empfohlen
haben. »Aber ich verstehe davon überhaupt nichts« – erwiderte
ich. Das macht nichts, Eure Exellenz ist jetzt eine solche »Anziehungsgröße«.
Na, das ist ja schön.”
Am 16. Februar 1920 saß die Nationalversammlung in feierlichem
Rahmen zusammen. Das Te Deum zelebrierte Bischof
Prohászka. In den Sitzungen erntete er - abgesehen von seiner
das Politisieren ablehnenden Haltung - immer Beifall, was seinem
außergewöhnlichen rednerischen Talent zu verdanken war.
Sein Agio als Politiker wuchs von Tag zu Tag. Prohászka stellte
einen Tag vor den Wahlen die Frage: „Aber wie ich mich dort
[in der Versammlung] zurechtfinde, ist das eine andere Frage;
jedenfalls muss man hervortreten und sich an den Aktionen beteiligen!
[…] Man muss klar sehen. Man muss erblicken, dass
der Liberalismus in dem ungarischen Klügeln und Trödeln festgewurzelt
ist wie in den Laissez-fair-Traditionen.” Das ungarische
„Rumpfparlament” trat am 16. Februar zusammen, was mit
einer Festrede seinen Anfang nahm und Ottokár Prohászka das
Te Deum anstimmte. Eine fieberhafte Arbeit hatte begonnen.
Am 1. März wählte die Nationalversammlung Horthy nach komplizierten
Unterhandlungen zum Reichsverweser. Bei dem feierlichen
Einzug Horthys in das Parlamentsgebäude nahm an der
Empfangsdelegation auch Prohászka teil. Protokollarisch hatte
er die Hauptrolle übernommen, er war nämlich der Leiter der Delegation.
Der Empfang ging nach einem gut durchdachten Drehbuch.
Nach der Abstimmung war Prohászka damit beauftragt,
Horthy vom Hotel Gellért mit der zahlreichen Abordnung von Abgeordneten
abzuholen und in den Sitzungssaal der Nationalversammlung
zu begleiten. War er ein Konterrevolutionär? In dieser
Situation sicherlich.
Konsolidierung? Innere Spaltung
Die außenpolitischen Manöver gingen auf der gleichen Bahn der
Demütigung auf internationaler Ebene wie es zur Zeit von Károlyi
der Fall war: Die Entente erbarmte nicht der anfänglich, irrational
instabile Staat und die ungarische Nation als Verlierer des Krieges.
Vor einem Jahr, Ende 1918, hatte Károlyi die Leitung der
Außenpolitik für sich selbst offen gehalten, aber der historische
Name Károlyi bedeutete dem „Rat der Vier” gar nichts. Nach der
Machtergreifung von Horthy und nach der Ernennung der Regierung
Simonyi-Semadam ging es auch nicht wesentlich besser.
Zwar war Horthy in den Augen der Briten ein stabiler Punkt, die
Franzosen wollten aber ein anderes Osteuropa, wo ihre Interessen
besser zur Geltung kämen. Die Außenpolitik bestand darin,
dass die Regierung machte, was die Siegermächte für richtig und
gut hielten. Dann kam Trianon, das Ungarische Königreich hatte
zwei Drittel seines Gebietes verloren. Die Wiederentstehung entbehrte
aller Vorbedingungen: kein Kapital, keine Bodenschätze
(viele Bergbaugebiete waren in den Besitz der in Trianon privilegierten
Nachfolgestaaten übergegangen), keine Absatzmärkte
für Agrarprodukte, eine unerträgliche Höhe der den Siegermächten
zufallenden Summen für Reparation, keine Arbeiterhände -
die männliche Bevölkerung war entweder im Krieg gefallen oder
verrichtete Zwangsarbeit in Gefangenschaft in fremden Ländern.
Die Rede Ottokár Prohászkas am 14. Juli 1921 in der Nationalversammlung
über die Sache der Kriegsgefangenen als Reflexion
auf die Vorlage des Ministerpräsidenten Károly Huszár war
ein Musterbeispiel für die rhetorischen Wissenschaften: „Es gibt
Leiden, sehr verehrte Nationalversammlung, die man verstehen
kann, deren Ursachen auch entdecken können, die, so sagt man,
unvermeidlich sind. Es gibt nämlich Krieg, es gibt viele Invaliden,
wenn es einen solchen Weltkrieg gibt, so wird eine Generation,
vielleicht mehrere, die blutarm werden, die Brutstätte des Elends
und des Todes werden; wenn es einen Krieg gibt, so gibt es auf
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dem Gesicht der Menschheit Leichenflecke, man kann sagen,
Wunden, aus denen der Hass und das Nichtbegreifen ausstrahlt.
Aber, sehr verehrte Nationalversammlung, unser Fatum ist das,
dass wir nicht nur Gefallene und Invaliden haben, wir haben nicht
nur blutarme Generationen, sondern wir haben Gefangene, die
sind als Helden aufgebrochen, aber aus Helden sind sie Häftlinge
geworden, die aus Häftlingen zu Geiseln wurden, die in eine
unverständliche, schreckliche Hölle geraten sind […].” In die lyrischen,
rhetorischen Floskeln vermischen sich konkrete Vorschläge:
Die Wiederbelebung der verpassten Goldaktion (Sammeln
von goldenen Gegenständen für die Verbesserung der Versorgung
der Kriegsgefangenen), der Aufruf an die Völker der Welt
(„Helft Ihnen! Helft Ihnen!”), ein Brief an den Papst in der Sache
der ungarischen Kriegsgefangenen und - Sozialrevolution,
als Gegenteil der Revolution gegen die Kaiser und Könige eine
Revolution für ein besseres Leben. Und ein Vorschlag, der auch
im 21. Jahrhundert die Probe bestehen könnte: „Die Sozialrevolution
müsste Techniker haben, die die Bergwerke schließen, die
die Kräfte der Gewässer einfangen und die Strahlen der Sonne
einfangen würden – als Treibkraft für Motoren und allerlei Maschinen
und doch noch für [unsere] Heizöfen.” Die Nachwelt,
nachdem 100 Jahre vorbeigegangen sind, kann nur die überraschende
Tatsache feststellen: Entdeckung der alternativen Energiequellen
im Jahre 1921!
Vor der Nationalversammlung stand eine Menge der dringenden
Aufgaben, ohne die die Funktionen des Staates nicht hätten in
die Gänge kommen können. Es meldeten sich praktische und
theoretische, meistens staats- und öffentlich-rechtliche Notwendigkeiten
wie beispielsweise die Staatsform oder die Macht des
Staatsoberhauptes. Königreich oder Republik, entweder König
oder eine andere, zeitweilige Form dieses Postens? Die Entscheidung
war eindeutig: Ungarn bleibt Königreich. Diskutiert
wurde aber über die Person des Staatsoberhauptes; die Versammlung
teilte sich in zwei Lager. Die Legitimisten wollten Karl
IV., die „szabad királyválasztók” einen König aus den Reihen
einer für jede Fraktion angemessenen, ungarischen historischen
Familie. Man muss wissen, dass die Entente und die benachbarten
für die zweite Lösung stimmenden jungen Kleinstaaten
eine habsburgische Restauration für einen Kriegsgrund hielten
und schroff ablehnten. Die Partei KNEP, die „Keresztény Nemzeti
Egyesülés Pártja” , deren Mitglied auch Prohászka war, war
auch geteilt, er stimmte – wie es zu erwarten war – mit einigen
Bischöfen des Episkopats für die zweite, nationale Lösung.
Der Gesetzesartikel I. von 1920 sprach die Wiederherstellung
der Verfassungsmäßigkeit aus und was damit zusammenhing,
die provisorische Übernahme der staatlichen Hauptmacht. Das
Ergebnis der Abstimmung spiegelte einen Kompromiss zwischen
den beiden Meinungen wider: Der Thron wird erst nach dem
Abschluss des Friedens von Paris besetzt, bis dahin wird ein
Reichsverweser in geheimer Abstimmung gewählt und ernannt.
„Man braucht eine starke Hand […]“ – sprach Prohászka - so
stark, wie János Hunyadi im 15. Jahrhundert. Und diese Hand
wurde Horthy, der dann die Macht bis März 1944 ausübte.
Drei Monate vergingen und was alle befürchtet hatten, ist eingetroffen.
Der am 4. Juni unterzeichnete Friedensvertrag wurde in
der Nationalversammlung dreimal gelesen. Prohászka schreibt
am 17. November: „Vorgestern war die dritte Lesung, das Gesetz
über die Enthauptung der Nation - über den Friedensvertrag
- ist fertig. Österreich ist auch auseinandergefallen, keines
der Länder aber so, wie das unsere – ich hatte mehrmals die
Ahnung, dass diese schimpfende Völkerschaft vor Gott einmal
zusammenbrechen wird und das haben wir nun ordentlich abbekommen.
Die Gotteslästerung geht bei uns am frechsten und
abscheulichsten ab, Schimpfen, das heißt noch gar nichts. Alle
schimpfen und wie schmutzig - so wie ein Schweinehirt. Ja, das
ist schon das Jüngste Gericht.”
Parallel mit der Tragödie in Trianon vollzog sich in Prohászka
eine innere Spaltung, seelisch und mental. Seine von der Kindheit
an innerlich wirkenden abstoßenden Gefühle gegen alles,
was politisch ist, kamen hoch. Er hatte sich getäuscht: Seine
Hoffnung, dass die Politik eine von den Habsburgern abgetrennte
Nationalpolitik zur Geltung kommen lässt, war gescheitert.
Er sah ein, dass die damaligen Abgeordneten ungeeignet sind,
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